Jugend
- Rudolf Slatin, Gouverneur von Darfur
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Rudolf Carl Anton Slatin wurde als 4. Kind einer zum Katholizismus konvertierten jüdischen Familie geboren. Seine Mutter, Maria Anna geb. Feuerstein, war die zweite Frau seines Vaters Michael Slatin, der verschiedene Beruf ausübte: Seidenfärber, Obsthändler, Eisverkäufer, Hausbesitzer.
Rudolf hatte fünf Geschwister: die Zwillingsschwestern Anna und Maria (*1852), die Brüder Heinrich (*1855) und Adolf (*1861), und die Schwester Leopoldine (*1864).
Er besuchte die Oberrealschule am Schottenfeld als durchschnittlicher Schüler, wechselte 1871 auf die Wiener Handels-Mittelschule und 1873/74 zur Handelsakademie. Als er erfuhr, daß ein Buchhändler in Kairo einen Gehilfen mit Fremdsprachenkenntnissen und kaufmännischer Ausbildung suche, besorgte er sich das Reisegeld und fuhr nach Ägypten. Mit 17 Jahren wagte er, der noch nie im Ausland gewesen war, den Sprung ins Ungewisse - ohne bekannten Namen oder familiären Hintergrund. Für Menschen seiner Herkunft aus dem kleinen bis gehobenen Mittelstand waren Reisen zu dieser Zeit nicht üblich.
Ein Grund, sich in dieses Abenteuer zu stürzen, war die prekäre finanzielle Lage der Familie nach dem Tod des Vaters im März 1873. Er sah es wahrscheinlich als seine Aufgabe, die wirtschaftliche Situation der Familie zu verbessern, und außerdem wollte er Karriere machen. Das erschien ihm nur außerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung, die das Leben im kaiserlichen Wien bestimmte, möglich. Afrika war für eine Karriere wahrscheinlich geeigneter.
Ägypten
Erste Schritte
Wenige Wochen nach seiner Ankunft in Kairo lernte Slatin in der Buchhandlung den bekannten deutschen Forschungsreisenden Theodor von Heuglin (1824-1876) kennen. Die geplante Expedition an die Küste des Roten Meeres kam zwar nicht zustande, doch Slatin reiste mit nach Khartum und war vom Herbst 1874 bis Ende 1875 im Sudan unterwegs. Über diese Zeit ist nichts weiter bekannt.
Da sich die Sicherheitslage verschlechterte, kehrte er nach Khartum zurück und freundete sich dort mit dem deutschen Arzt und Forscher Eduard Schnitzer (1840-1892) an, der im Dienst des Khediven in der Verwaltung des Sudans tätig war und als „Emin Pascha” zu hohen Ämtern aufstieg.
Slatin wollte mit Schnitzer zu General Charles George Gordon (1833-1885), der damals im Dienst des Khediven Gouverneur von Äquatoria in Lado war, reisen.
Rückberufung nach Wien
Da aber erhielt er 1877 seine Einberufung zur k.u.k. Armee, der er als treuer Untertan von Kaiser Franz Joseph natürlich folgte. 1877 wurde er zum Leutnant der Reserve im 19. Infanterieregiment Kronprinz Rudolfs befördert, vor ihm lagen sehr eingeschränkte In der 1877 verfassten Beurteilung heißt es: „Kommandiert einen Zug und eine Kompanie gut; heiteres Gemüt, ehrenhafter Charakter, sehr weite Geistesgaben; gegen Untergebene von guter Einwirkung, versteht sie zu behandeln.” Aber er hatte „nicht vor dem Feinde gedient”, also nicht gekämpft.Karrieremöglichkeiten. Aufgrund seiner Herkunft konnte er weder Stabsoffizier noch gar General werden. Und der Dienst in einer langweiligen Garnison an der bosnischen Grenze entsprach nicht seiner Vorstellung vom Leben.
Rückkehr Ägypten
Daher umso gelegener kam ihm 1878 ein Schreiben General Gordon, der britische „Kamelreiter”, war als „Chinese Gordon” im Empire legendär und wurde als „Gordon of Khartoum” unsterblich. Er hatte 1859/60 an der englisch-französischen Expedition im 2. Opiumkrieg teilgenommen und maßgeblich zum Sieg über die Taiping-Rebellen beigetragen. Im Sudan wirkte er von 1873-1879Gordon Paschas, der ihn auf Empfehlung Dr. Schnitzers einlud, nach Khartum zu kommen. Slatin hatte trotz seiner unbedeutenden Position einige Schwierigkeiten, seinen Dienst in der österreichisch-ungarischen Armee zu quittieren und konnte erst im Dezember, als sein Regiment nach Preßburg zurückgekehrt war, abrüsten.
Bezirksgouverneur von Dara
- General Charles George Gordon
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Gordon Pascha, der auf der Suche nach Europäern für die Verwaltung des Sudan auf Empfehlungen zurückgriff, nahm seinen neuen jungen Mitarbeiter mit großer Herzlichkeit auf und machte ihn zunächst zum Finanzinspektor. Das äußerst komplexe Steuersystem des Landes, beruhend auf Korruption und Gewalt, überforderte Slatin, so daß er mit seinem Bericht an Gordon auch gleich sein Demissionsgesuch einreichte. Gordon entband ihn von dieser Aufgabe und ernannte ihn zum „Murdir” (Bezirksgouverneur) von Dara, der Südwestregion von Darfur.
Seie Tätigkeit als „Murdir” war durchaus erfolgreich, es gelang ihm, eine Revolte niederzuschlagen, die seinen Bezirk zu spalten drohte, und die Grundlage für eine stabile und gerechte Verwaltung zu schaffen.
Gouverneur in Darfur
Im April 1881 wurde er vom Khedive zum Gouverneur der ganzen Provinz Darfur und „Bey” befördert. Nach nur 27 Monaten im Sudan und erst 24 Jahre alt übernahm er in einem afrikanischen Gebiet von etwa 350.000 km² (ungefähr so groß wie Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen) die Regierungsgewalt. Ein Gebiet, das zwischen der Sahara und dem Kongo eine strategische Lage einnahm und in das alle europäischen Großmächte mit Ausnahme Österreich-Ungarns langsam vorrückten. Und für Slatin sicher enttäuschend war, daß General Gordon von seinem Posten als Generalgouverneur zurücktrat und nach England ging.
Slatins Stellung entsprach nun in etwa der Elite junger britischer Beamter, die Indien im Namen der Königin regierten. Aber es stand ihm keine organisierte Zivilverwaltung zur Verfügung; er verfügte über keine hervorragende Armee, hinter der die Kraft des Empires stand; und der Sudan stand knapp vor einem explsionsartigen Aufstand: die Mahdi-Revolte sollte das Land für 17 Jahre in Blutvergießen und Terror stürzen. Slatin erlebte mehr Abenteuer, als er sich vorgestellt, und erntete mehr Ruhm, als er je erträumt hatte.
Der Mahdi-Aufstand
- Mohammed Achmed Ibn el-Sayyid Abdullah, der „Mahdi”
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Mohammed Achmed Ibn el-Sayyid Abdullah (1844-1885), ein Bootsbauersohn von der Nilinsel Dongola, versammelte Anhänger des Derwischordens der Sammanja hinter sich, indem er sich für den „Mahdi” („Auserwählter”, „Gesandter Gottes”, „von Gott gelenkter”) ausgab, den von den Sunniten für das Ende der Zeiten erwarteten Erlöser. Allah habe ihn gesandt, um die Ungläubigen zu bekehren oder zu vernichten, eine gerechte Verteilung der Güter herbeizuführen und den Sudan von der ägyptischen Herrschaft zu befreien.
Die ägyptischen Behörden unterschätzten die Bedeutung des Mahdi, alle ihre Versuche, die Aufstände niederzuschlagen, waren zu schwach und zu spät. Slatin, der in seiner Provinz 27 Aufstände niedergeschlagen hatte, mußte sich schließlich aus Mangel an Soldaten und Material nach Dara zurückziehen. Hoffnung auf Nachschub und Entsatz hatte er praktisch nicht mehr, auch der Kampfgeist seiner Soldaten ließ von Tag zu Tag nach.
Slatins Ãœbertritt zum Islam
Schließlich fand er heraus, daß seine Leute, von den Mahdisten aufgehetzt glaubten, er als Christ könne in diesem Krieg niemals einen endgültigen Sieg erringen. Also entschloss er sich zu einem „Lange überlegte ich, was ich gehört hatte, und gelangte nach einer schlaflosen Nacht zu dem schweren Entschluß, mich vor meinen Soldaten als Mohammedaner zu bekennen. Ich war mir darüber klar, daß dieser Schritt von mancher Seite Mißbilligung finden würde, doch er mußte gemacht werden. Ich sah darin das einzige Mittel, den Intriguen die Spitze abzubrechen, die meine Thätigkeit zu lähmen drohten, und ich hielt es für meine Pflicht, nichts unversucht zu lassen und selbst den Schein des Glaubenswechsels auf mich zu nehmen, um das mir anvertraute Land der Regierung so lange wie möglich zu erhalten, als es in meiner Kraft stand.” [Feuer und Schwert im Sudan]drastischen Schritt: Er trat zum Islam über. Ein Schritt, den er wahrscheinlich oft bereut hat, auch wenn er ihm in der Situation als der einzige Ausweg erschien. Aber er begründete damit seinen Ruf, zu pragmatisch und zu wenig standfest zu sein. Slatin passte sich den äußeren Umständen an, und diese Anpassungsfähigkeit rettete ihm in der Gefangenschaft sicher oft das Leben. Aber sie ließ ihn auch als zu biegsam und nicht unbedingt zuverlässig erscheinen. General Gordon etwa konnte Slatins Handlungsweise weder verstehen noch verzeihen. Der spätere Märtyrer des Sudan lebte und starb als bibeltreuer Christ.
Slatins Kapitulation
Am 20. Dezember 1883 erhielt Slatin die Nachricht, daß auch der letzte Versuch Ägyptens, den Aufstand niederzuschlagen, erfolglos geblieben war - die Armee unter Generalmajor Hicks war aufgerieben worden. Damit war ihm klar, daß ein weiterer Kampf nicht mehr möglich war und er kapitulieren mußte. Nach dreitägigen Verhandlungen ergab sich Slatin dem neuen Gouverneur von Dafur, seinem ehemaligen Untergebenen Mohammed Khaled.
Englands Niederlage
In England lehnte die Regierung Gladstone ein direktes britisches Eingreifen im Sudan ab, schickte jedoch auf Druck der Presse den bewährten General Gordon zurück nach Khartum. Im Februar 1884 traf Gordon, wieder offiziell zum Generalgouverneur des Sudan ernannt, in Khartum ein. Seine Aufgabe war allerdings nur, die beste Methode für die Räumung des inneren Sudan festzustellen. Doch Gordon wollte das ägyptische Regime in Khartum durch die angestammten herrschenden Familien im Sudan ersetzen, und forderte damit die Macht des Mahdi politisch heraus. Allerdings wurde ihm die Entsendung einer anglo-ägyptischen Armee zur Durchsetzung des Planes zunächst verweigert und dann so lange verzögert, bis alles verloren war. Am 25. Januar 1885 fiel Khartum nach einem kurzen Gefecht, bei dem Gordon den Tod fand und zu „Gordon of Khartoum”, dem Märtyrer von Khartum wurde:
„Die Sklaven traten in meine Seriba, blieben mit grinsender Miene vor mir stehen, Schetta schlug das Tuch auseinander und zeigte mir - das Haupt General Gordons! ... Die blauen Augen waren halb geöffnet, der Mund hatte seine natürliche Form behalten, das Gesicht war ruhig, die Züge nicht verzerrt...” [Rudolf Slatin, Feuer und Schwert im Sudan]
Der Tod Gordons erregte England und Königin Victoria (1819|1837-1901) so sehr, daß diese ihren Premierminister Gladstone, ihren Außenminister Lord Granville und ihren Kriegsminister Lord Hartington öffentlich zurechtwies - in der konstitutionellen Monarchie Großbritanniens ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Dieser Schuld- und Rachekomplex gegenüber dem Sudan und dem Mahdi, das Gefühl der Empörung war eine der Strömungen, die Slatin nach seiner Flucht emportrieben.
Khartum aber erlebte fünf Tage lang eine Orgie der Folterungen, des Mordens, der Vergewaltigungen, Brandstiftungen und Plünderungen. Slatin wurde in schwere Ketten gelegt und in das allgemeine Gefängnis gebracht. Der Mahdi bezichtigte ihn des Verrats, weil Gordon in einem Brief einen Bericht Slatins über die Schwäche und Uneinigkeit im Lager des Mahdis zitierte.
Gefangener des Mahdi
- Rudolf Slatin Bey im Dienst des Khediven, ca. 1870
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Slatin war sechs Monate in Ketten im allgemeinen Gefängnis, und er hatte großes Glück, daß ihn der Mahdi nicht zu Tode foltern hatte lassen, denn er hatte ihn und den Dschihad verraten. Bei einer Inspektion des Khalifa Abdullahi gelang es Slatin mit einer Rede, sich und seinen Mitgefangenen, den Exgouverneur der Provinz Bahr-al-Ghazal, Frank Lupton, freizubekommen. Der Khalifa brachte die Beiden zum Mahdi, der sie, beeindruckt von einer Interpretation Slatins eines Weisheitsspruches des Propheten Mohammed, begnadigte und ihnen erlaubte, erneut den Treueeid zu leisten. Lupton durfte zu seiner eingeborenen Frau und den Kindern ins Lager ziehen, Slatin wurde - auf eigenen Wunsch - dem Gefolge des Khalifa als „Mulazem” (Leibwächter des Khalifa) eingegliedert. Der Khalifa wies Slatin ein Grundstück und Diener zu und gab ihm seine beschlagnahmten Wertgegenstände und Bargeld zurück.
Kalifat von Omdurman
Fünf Monate nach der Eroberung Khartums, am 22. Juni 1885, starb der Mahdi unerwartet und schnell, vermutlich an Typhus. Kurz vor seinem Tod ernannte er den Khalifa Abdullahi ibn Muhammad, Slatins Herrn, zu seinem Nachfolger.
Der Khalifa war, so schildert ihn Slatin, absolut unberechenbar, aufbrausend und jähzornig, durchtrieben, hinterhältig und gemein, ungewöhnlich eitel und unmenschlich grausam, gleichzeitig aber auch ein guter Krieger und energischer Herrscher - und extrem mißtrauisch. Elf Jahre sollte Abdel Kader, wie er nun hieß, Gefangener dieses Wüstendespoten sein, mußte sich immer in seiner Nähe aufhalten und ihn auf allen Reisen begleiten, zunächst zu Fuß, bis ihm der Khalifa nach einer Fußverletzung ein Pferd schenkte und erlaubte, in seinem Gefolge mitzureiten.
Slatins Leben als Abdel Kader
Die Beziehung zwischen dem Khalifa und Slatin war wohl von einer Art „Haßliebe” geprägt. Er war zweifellos der wertvollste Gefangene des Khalifa und hatte unter den europäischen Gefangenen eine privilegierte Sonderstellung inne, mit eigenem Haus, Dienern und Konkubinen, die ihm der Khalifa zuwies. Dieser entwickelte vermutlich im Laufe der Jahre eine Zuneigung zu Slatin, doch war er viel zu mißtrauisch, um dieser nachzugeben. So war Slatins Leben eine ständige Berg- und Talbahn, ausgesetzt den Launen und Stimmungen des Khalifa, stets auf dem glatten Parkett der Unberechenbarkeit seines Herrn balancierend. Auch wenn er stets unter starkem psychischen Druck stand, mußte er wahrscheinlich nicht um sein Leben fürchten.
Ansonsten muß das Leben für Slatin in Omdurman, dem Sitz des Khalifen, unvorstellbar eintönig und langweilig gewesen sein. Der Kontakt zu den anderen Gefangenen, insbesondere zu Pater Joseph Ohrwalder, war ihm im Prinzip verboten, und er konnte sie nur an wenigen Orten für kurze Gespräche treffen. Jede Art von Zerstreuung und Unterhaltung hatte der Khalifa verboten, Alkohol sowieso, und Bücher gab es auch nicht. Einer Geschenksendung seiner Geschwister waren ein paar Ausgaben der Neuen Freien Presse beigelegt, die er so oft las, bis er sie praktisch auswendig konnte. Erstaunlich und bewundernswert ist, daß er trotz seiner mißlichen Lage nur selten über sein Schicksal klagte:
„Mein Schicksal ist schwer - in Lumpen gekleidet, bloßen Füßen-, manchmal am Notwendigsten Mangel leidend, ertrage ich jahrelang mein Leben, oft den Demütigungen roher Fanatiker ausgesetzt. Daß meine früheren Vorgesetzten und Freunde nicht wissen, ob und was ich geleistet, was ich gelitten und noch leide, macht mir alles doppelt schwer.” (Brief an seine Geschwister)
Slatins Flucht
- Josef Székely, Rudolf Slatin als Beduine
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Aber diese Mühsal ging dem Ende zu. Sein Schicksal sollte sich entscheidend und endgültig verbessern. Die Briten begannen nämlich, allmählich Vorbereitungen zur Rückeroberung des Sudan zu unternehmen. In Kairo wurde unter Major Reginald Wingate, der zum besten Freund und Wegbegleiter Slatins werden sollte, ein Büro des militärischen Nachrichtendienstes eingerichtet: das Büro sollte die Grenzen des Khalifa-Reiches überwachen, die politische und ökonomische Lage analysieren, Details über die militärische Schlagkraft seiner Armee ausspionieren und einen Plan zur Befreiung der in Omdurman gefangenen Europäer ausarbeiten. Insbesondere ging es dabei um den prominentesten Gefangenen, den Ex-Gouverneur Rudolf Slatin.
Im Februar 1892 traf Abdel Kader erstmals in der Moschee von Omdurman - der einzige Ort, an dem er sich ungestört länger aufhalten konnte - mit einem Kontaktmann Wingates zusammen. Aber die Flucht war schwierig zu organisieren, denn Abdel Kader wurde praktisch Tag und Nacht überwacht, mußte fünf Mal am Tag in der Moschee erscheinen und befand sich den ganzen Tag in der Nähe des Khalifa. Außerdem waren alle Straßen überwacht. So dauerte es noch bis zum 21. Februar 1895, bis Slatin endlich fliehen konnte.
Eine wilde Jagd
Die Flucht war teilweise eine wilde Jagd mit wechselnden arabischen Führern. Die ersten 24 Stunden ritten sie ohne Pause 220 km weit. Am zweiten Tag wäre der hellhäutige Slatin beinahe entdeckt worden, am dritten Tag waren die Kamele zu erschöpft, um planmäßig den Ort des nächsten Kamelwechsels erreichen zu können. Slatin mußte sich sechs Tage in den dünn besiedelten Gilif-Bergen verstecken, bis neue Kamele besorgt werden konnte. Auch dort wurde er von einem Hirten entdeckt, der aber glücklicherweise ein Verwandter seines Führers war, sie in ein besseres Versteck brachte und mit Lebensmitteln versorgte. Mit den neuen Kamelen mußten sie nun eine Übergangsstelle über den Nil in der Nähe des fünften Nilkatarakts erreichen, immer den Karawanen ausweichend. Aber sie trafen die Männer, die Slatin übersetzen sollten, nicht an, was einen weiteren Tag Verzögerung bedeutete. Inzwischen hatte sich seine Flucht herumgesprochen, alle Nilfähren und Grenzen wurden strengstens bewacht. Schließlich trafen sie auf die Männer, und diese brachten Slatin sicher über den Fluß.
Dann lagen noch immer 640 km Wüste vor Slatin. Nach mehreren Tagen gelangten sie nach Bir-Naurik an der ägyptisch-sudanesischen Grenze, aber immer noch mehrere Tagesmärsche von der nächstgelegenen ägyptischen Garnison entfernt. Mit einem alten Araber als Führer und nur ein Kamel setzte Slatin die Flucht fort. Der alte Mann brach nach zwei Tagen zusammen, Slatin mußte ihm das Kamel überlassen und folgte ihm vier Tage zu Fuß. Da er seine Sandalen verloren hatte, kam er nur schmerzgepeinigt und langsam voran. Auch das Kamel begann zu lahmen, und Slatin mußte ihm täglich die Füße bandagieren.
Endlich am Ziel
Am 16. März 1895 erreichte er endlich die anglo-ägyptische Militärgarnison von Assuan. Seine 24-tägige Flucht und seine elfjährige Gefangenschaft waren zu Ende. Zu Mittag ließ er sich bei Colonel Hunter, dem Oberbefehlshaber der Garnison und Gouverneur der entlegenen Grenzprovinz, melden, der ihm jedoch beschied, er müsse bis nach dem Mittagessen warten. Slatin ließ sich jedoch nicht abweisen, und Major Jackson bat schließlich seinen Vorgesetzten, den Mann hereinzulassen. Er hielt das nachfolgende denkwürdige Ereignis für die Nachwelt fest:
„Ein schmutziger kleiner Araber mit bloßen Füßen und einer schmierigen Kappe auf dem Kopf trat ein. Er blieb stehen, verbeugte sich und verharrte mit über die Brust gelegten Händen und niedergeschlagenen Augen. »Wer bist du«, fragte ich ihn auf Arabisch. »Ich bin Abd el Kader«, flüsterte er ohne mich anzusehen, und das war alles, was ich aus ihm herausbekommen konnte. Aber nun stand Archibald Hunter, der sich bis jetzt für den Vorgang nicht interessiert hatte, auf und trat neben mich. Er sah den kleinen Araber an und fragte ihn auf Arabisch: »Hast du keinen anderen Namen?« Keine Antwort. Plötzlich ging Hunter ein Licht auf. »Gott im Himmel!«, rief er und fragte dann auf Arabisch: »Bist du Slatin?« Es folgte eine Pause und dann antwortete der kleine Araber immer noch im Flüsterton: »Ja, ich bin Slatin!«” (Brook-Shepherd, Slatin Pascha)
Der Augenblick hätte wohl dramatischer nicht inszeniert werden können. Slatin wurde nun bewirtet, die Offiziere stellten eine Uniform aus ihren Kleiderschränken für ihn zusammen, und am Abend wurde er als Ehrengast in der Messe mit der österreichischen Kaiserhymne begrüßt. Er brach in Tränen aus.
Am nächsten Tag brach Slatin mit dem Postdampfer nach Girgeh auf, der südlichsten Station der Eisenbahn. Begleitet von sämtlichen Offizieren, bestaunt von den Touristen und unter den Klängen der Kaiserhymne bestieg er den Dampfer. Um 6:10 Uhr am 19. März erreichte er mit dem Zug Kairo.
Gesellschaftlicher Aufstieg
Seine Flucht aus der Gewalt des Khalifa machte Slatin mit einem Schlag weltberühmt. Sie bewegte die Herzen und öffnete ihm alle Türen. Slatins ehrgeiziger Traum von Ruhm, Auszeichnungen und gesellschaftlicher Stellung begann sich zu erfüllen, paradoxerweise nicht im Gefecht, sondern durch seine Flucht:
„Im gleichen Augenblick, als der mit Schmutz bedeckte kleine Araber Slatin die britische Offiziersmesse in Aussuan betrat, wurde Sir Rudolf Freiherr von Slatin, der mit Orden bedeckte Liebling Europas im viktorianischen und edwardianischen Zeitalter, geboren.” (Brook-Shepherd, Slatin Pascha)
Ernennung zum Pascha
- Herbert Kitchener, 1. Earl Kitchener of Karthoum als Sirdar, um 1900
Quelle: Wikipedia
Schon zwei Tage nach seiner Ankunft in Kairo wurde er vom Khedive Tewfik empfangen und zum „Pascha” ernannt, was allerdings ein militärisches Rangproblem schuf. Slatin war seit 1881 Bey, was dem militärischen Dienstgrad eines Oberstleutnants entsprach. Dem zivilen Titel eines Paschas hätte in der ägyptischen Armee der militärische Rang eines Generals oder mindestens eines Generalmajors entsprochen, zu dem ihn der Khedive auch befördern wollte. Damit wäre er aber automatisch zum Vorgesetzten fast aller britischen Offiziere geworden - für den Sirdar (Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee), General Sir Herbert Kitchener, eine unmögliche Situation. Ein so hoher militärischer Rang war für einen Nicht-Briten nicht möglich, und so wurde Slatin Pascha „nur” zum Oberst befördert. Baron Heidler, der österreichische Missionschef, meldete nach Wien, daß mit Slatin erstmals eine Ausnahme bezüglich der militärischen Ränge für Nicht-Briten gemacht worden sei.
Die Grenzen des Nicht-Briten
Hier zeigten sich erstmalig und früh die Grenzen dessen, was Slatin als Nicht-Brite erreichen konnte, und daß ihm der Zugang zum innersten Britannien niemals gelingen würde. Die Diskrepanz zwischen seinen Titeln und seinen tatsächlichen Amtsvollmachten begleitet Slatin Pascha auf seinem weiteren Lebensweg, scheint ihn aber nicht wirklich belastet zu haben: Titel waren ihm immer wichtiger.
Slatin, nun wieder aufgenommen in die ägyptische Armee, wurde dem nachrichtendienstlichen Büro von Major Wingate Bey zugeteilt. Wingate würde für den Rest von Slatins Tätigkeit für die Briten sein Vorgesetzter sein, aber er wurde vor allem sein engster Freund und Förderer. Als „Rex” (Wingate) und „Rowdy” (Slatin) wurden sie zu den „sudanesischen Zwillingen”.
Zunächst drängte Wingate Slatin, seine Erlebnisse in Buchform zu bringen, und 1896 erschien es gleichzeitig in England (Fire and Sword in the Sudan 1879-95) und bei F. A. Brockhaus in Deutschland (Feuer und Schwert im Sudan, die hier verwendete Ausgabe ist bearbeitet und gekürzt 1997 erschienen). Der auf Deutsch geschriebene Text wurde roh ins Englische übersetzt, von Wingate redigiert und ins Deutsche rückübersetzt. Das Buch ist kein literarisches Meisterwerk - Slatin war ein guter Erzähler, aber zum Schreiben unbegabt -, aber wirkt authentisch und ist gut zu lesen. Auf jeden Fall war es ein großer Erfolg: die 13. deutsche Auflage erschien (zweibändig) 1921.
Slatins erste Rückkehr nach Europa
- Franz Joseph I. (Kaiser 1848-1916) und Elisabeth
Huldigungsmedaille der Stadt Wien zur Silbernen Hochzeit, 1879
Wien, Kunsthistorisches Museum
Am 7. Juli kam Slatin Pascha nach 17-jähriger Abwesenheit wieder nach Wien, wo er allerdings nur zwei Wochen bleiben konnte. Vermutlich wurde er von Kaiser Franz Joseph in Audienz empfangen, allerdings gibt es dafür keine Bestätigung. In England öffneten sich ihm die allerhöchsten Türen. Im Juli dinierte er im Malborough House als Gast des Prinzen von Wales, dem späteren König Edward VII. Und am 19. August wurde er von Königin Victoria zum Abendessen mit Ãœbernachtung auf Schloß Osborne auf der Isle of Whight geladen. Und er hat die Königin durchaus beeindruckt, wie aus ihrem „Nach dem Dinner ein ausführliches Gespräch mit ihm [Major Wingate] und Slatin Pascha. Der Letztere ist ein charmanter und bescheidener kleiner Mann, und niemand würde glauben, daß ein so wechselvolles Schicksal hinter ihm liegt.” (Tagebuch der Königin Victoria, 19.8.1895; zit. nach Brook-Shepherd, Slatin Pascha)Tagebuch hervorgeht.
Im Oktober 1895 wurde Slatin von der Königin in Balmoral empfangen und mit dem militärischen Order of the Bath (C.B.) ausgezeichnet. Von nun an war er für zwanzig Jahre fast jedes Jahr Gast auf Schloß Balmoral, zuerst bei der Königin, dann bei ihrem Sohn und schließlich bei ihrem Enkel. Diese Aufenthalte betrachtete er als Höhepunkte seine gesellschaftlichen Lebens, und das war umfangreich genug. Und die Ordensverleihung durch die englische Königin brachte ihm auch einen österreichischen Orden ein, den Franz-Josephs-Orden mit Stern (ein Massenorden ohne Anspruch auf die Erhebung in den Adelsstand, der überwiegend an mittlere soziale Schichten verliehen wurde).
Rückeroberung des Sudan
Erste Etappe
Im März 1896 beschloß das britische Kabinett die Rückeroberung des Sudan. Diese sollte in zwei Etappen erfolgen, zwischen denen eine längere Pause lag. In der ersten Phase wurde die Nordprovinz Dongola innerhalb von sechs Monaten zurückerobert. Wingate Bey und Slatin Pascha nahmen daran unter Generalmajor Sir Herbert Kitchener, dem Sirdar (Oberbefehlshaber) der ägyptischen Armee, teil. Slatin informierte die Königin„Infolge der allerhöchsten Teilnahme, die Eure Majestät an meinem Schicksale huldvollst zu nehmen geruhten, wage ich in tiefster Ehrfurcht diese Zeilen zur gnädigen Durchsicht zu unterbreiten...” (Brook-Shepherd, Slatin Pascha) direkt und auf Deutsch über diesen Feldzug. Die Königin ihrerseits war besorgt um die Sicherheit Slatins. Sie ließ beim britischen Generalkonsul in Ägypten, Lord Cromer, nachfragen, ob „alle denkbaren Vorsichtsmaßnahmen für Slatins Sicherheit, besonders im Hinblick auf die Möglichkeit eines Attentatsversuchs” getroffen worden seien.
Nach dem erfolgreichen Abschluß dieser ersten Etappe wurde Wingate zum Colonel (Oberst) befördert, und Slatin erhielt von Königin Victoria den Victoria-Orden (Knight Grand Cross of the Royal Victorian Order, G.C.V.O.) und einen fünfseitigen persönlichen Brief.
Slatin und Wingate kehrten nun für einige Zeit nach Kairo zurück, wo sich Slatin vor allem dem Gesellschaftsleben widmete. In diesem Jahr erschien auch, wie eine PR-Maßnahme zur Unterstützung des Feldzuges, Slatins Buch Feuer und Schwert im Sudan zugleich auf Englisch und auf Deutsch. Die englische Ausgabe widmete er Königin Victoria, die deutsche Kaiser Franz Joseph.
- Reprint der engl. Originalausgabe, 2011
- Reprint der dt. Originalausgabe, 2011
Zweite Etappe
Mitte 1897 begann die erste Etappe der Rückeroberung des Sudan, und Ende August war die Expeditionsarmee nur noch 400 km von Khartum und dem Khalifa entfernt. Im Februar 1898 wurde auf dringendes Ersuchen von Wingate die anglo-britische Armee um zwei britische Brigarden ergänzt. Slatin allerdings konnte am weiteren Vormarsch nicht teilnehmen, Kitchener hatte ihn in Wadi Halfa mit Verwaltungsaufgaben zurückgelassen - offiziell, um Slatins Sicherheit zu gewährleisten. Kitchener schätzte Slatin nicht besonders und neidete ihm seine Beziehungen zum Hof. Erst am endgültigen Marsch nach Omdurman durfte Slatin wieder teilnehmen.
Die Schlacht von Omdurman, an der auch Winston Churchill mit dem 11. Lancer-Regiment teilnahm, begann im Morgengrauen des 2. September 1898 mit einem frontalen Massenangriff der Derwische:
„Plötzlich setzte sich die gesamte schwarze Linie, die eine Zariba zu sein schien, in Bewegung. Sie bestand aus Menschen und nicht aus Büschen. Hinter ihr strömten immense Massen und tauchten dann über dem Hügel auf, und während wir noch staunend und verwundert diesen Aufmarsch betrachteten, verwandelte der Hang sein Antlitz in einen schwarzen Haufen ausschwärmender Wilder. Die vier Meilen lange Heeresschlange, die, wie es schien, in fünf Divisionen unterteilt war, näherte sich uns nun schnell. Die ganze Seite des Hügels schien in Bewegung geraten zu sein. Zwischen den marschierenden Massen galoppierten Reiter, die Ebene vor ihnen war übersät mit vielen Patrouillen, über denen Hunderte Banner flatterten, und die Sonne, deren glitzernder Glanz auf vielen tausend Speerspitzen zu vernehmen war, zerteilte eine funkelnde Wolke.” (Winston Churchil, zit. nach Vogelsberger, Slatin Pascha)
Gegen Mittag war die Schlacht zu Ende, Kitcheners Truppen hatten gesiegt, auf dem Schlachtfeld lagen 12.000 tote Derwische, während Kitchener nur 28 Mann verlor. Der Khalifa war geflohen. Im Gefolge des Generals ritt auch Slatin in Omdurman ein. Der Sieg wurde mit einem Requiem für den „Märtyrer von Khartum”, General Charles George Gordon, besiegelt.
Dem Khalifa Abdullahi war die Flucht nach Kordofan gelungen. Dort hielt er sich noch über ein Jahr und versammelte eine beachtliche Streitmacht um sich. Mehr oder weniger zufällig stieß Reginald Wingate auf das Lager der Khalifa-Truppen und vernichtete sie am 23. November 1899. Slatin war es nicht vergönnt, seinen früheren Herrn und Kerkermeister selbst gefangen zu nehmen, er erfuhr in Wien vom Tod des Khalifa.
Nach dem Sieg über den Sudan wurden Wingate und Slatin von Königin Victoria als Knight Commander of the Order of St. Michael and St. George, K.C.M.G. in den Adelsstand erhoben, wie der österreichisch-ungarische Missionschef Baron Heidler stolz nach Wien „Slatin Pascha, welcher bereits zwei englische Orden besitzt, erhielt das Kommandeurkreuz mit dem Sterne des St. Michael und St. George, welche Dekoration bekanntlich für englische Staatsangehörige den Titel Sir und für deren Gattinnen den Titel Lady impliziert.” (zit. nach Vogelsberger, Slatin Pascha)vermeldete. Schon im März hatte Kaiser Franz Joseph Slatin Pascha in den Ritterstand, den niedrigsten Adelstitel der Monarchie, erhoben. Er durfte sich nun Rudolf Ritter von Slatin Pascha nennen und alle seine persönlichen Gegenstände mit einer fünfzackigen Krone schmücken.
Sir Rudolf Ritter von Slatin Pascha
Die nächsten 15 Jahre pendelte Slatin Pascha zwischen dem Sudan, Ägypten und den europäischen Fürstenhöfen hin und her. Er war Freund und Vertrauter zahlreicher Monarchen und Berühmtheiten und viel umjubelter Gast der Hocharistokratie und der feinen Gesellschaft.
1900 beantragte er 41-jährig seine Pensionierung in der anglo-ägyptischen Armee. Dem neuen Rang eines Brigadegenerals entsprechend hätte ihn Kitchener zum Stabschef machen müssen, was jedoch vollkommen undenkbar war. Somit gab es in der Armee keinen Posten, der seinen Titeln und militärischem Rang entsprochen hätte. Auch die zunehmenden persönlichen Differenzen zwischen ihm und Kitchener bestimmte seinen Entschluß, seinen Abschied zu nehmen.
Schatzsucher in den Nuba-Bergen
Mit seiner Pension und den Tantiemen aus seinem Buch hätte er ein angenehmes Zivilistendasein führen können. Als „Salonlöwe” und Gast an Königs- und Fürstenhöfen mußte er sich jedoch einen gehobenen Lebensstil und ein standesgemäßes Auftreten aneignen, was ihm seine Einkünfte nicht ermöglichten. Deshalb begab er sich im Februar 1900 als Schatzsucher in die Nuba-Berge in der Südprovinz Kordofan, wo er wertvolle Bodenschätze zu entdecken hoffte. Mit dieser Unternehmung scheiterte er jedoch.
Generalinspekteur des Sudan
- William Crooke, Sir Reginald Wingate, 1906
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Doch die politische Lage änderte sich zu seinen Gunsten. Lord Kitchener wurde nach Südafrika beordert, wo der Burenkrieg tobte. Sein Nachfolger als Generalgouverneur des Sudan wurde Sir Reginald Wingate, Slatins Freund „Rex”. Und dieser griff bald auf seinen alten Freund zurück. Im September 1900 wurde Slatin Pascha zum Generalinspekteur des Der Sudan hatte zu dieser Zeit einen Sonderstatus. De jure war er ein sogenanntes „Condominium” Anglo-Ägyptens, das wiederum eine Provinz des Osmanischen Reiches war. De facto war der Sudan ein britisches Protektorat, in dem der Generalgouverneur mit denselben Vollmachten regierte wie der Raj, der britische Vizekönig in Indien.Sudan ernannt und war damit dem Titel nach Wingates Stellvertreter.
Dennoch vertrat er den Generalgouverneur niemals wirklich. In der britischen Verwaltung blieb er ein Außenseiter ohne reale Befehlsgewalt, seinen Einfluß bezog er ausschließlich aus seiner engen Verbundenheit mit dem Generalgouverneur. Sein Aufgabenbereich war nicht festgelegt, er war das Ohr und Auge des Generalgouverneurs und stand ihm beratend und mit Verbesserungsvorschlägen zur Seite. Er war ein Vermittler, ein Verbindungsmann zwischen Briten und Sudanesen. Da er den Gipfel des Erfolges bereits erreicht hatte und im Sudan nicht weiter aufsteigen konnte, stellte er auch keine Bedrohung für die ambitionierten Offiziere das Stabes dar. Die britische Bürokratie und ihr Funktionieren blieben ihm immer unverständlich.
Sir Rudolf Freiherr von Slatin Pascha
Slatin Paschas tatsächliche Ambitionen lagen jedoch im Gesellschaftsleben, und hier war er äußerst erfolgreich. Ungeachtet seiner niedrigen Herkunft verkehrte er in Fürstenhöfen und bei der (allerdings vorwiegend englischen) Hocharistokratie. Er war gut aussehend, charmant, redegewandt, verbreitete gute Stimmung und Fröhlichkeit und war ein ausgezeichneter Tänzer. Er war Monarchist und glaubte an das Gottesgnadentum, dessen lebende Verkörperung er vor allem in der Person des greisen Kaisers Franz Joseph sah. Er liebte und ehrte ihn aufrichtig, obwohl ihm der Kaiser immer unnahbar blieb.
Slatins Leben im Jahreslauf
Slatin Pascha begegnete seinen Mitmenschen und auch Fremden äußerst liebenswert, zuvorkommend und freundlich, Arroganz und Überheblichkeit waren ihm fremd. Sein Jahr verlief gewöhnlich nach folgendem Muster: Die ersten fünf Monate verbrachte er im Sudan, meistens in seinem Haus in Khartum. Gelegentlich unternahm er Dienst- oder kurze Urlaubsreisen nach Ägypten.
Zwischen Juni und Oktober machte er Urlaub in Europa. In Österreich hielt er sich abwechselnd in Wien oder in Traunkirchen auf, wo er für seine unverheirateten Schwestern Marie und Leopoldine die Spitzvilla erworben hatte. Für ihn war dieses Domizil seiner Schwestern ein liebes Refugium und ein stiller Zufluchtsort.
In Ungarn traf man ihn auf der Jagd, in Böhmen kurte er in Marienbad, oft gleichzeitig mit Kaiser Franz Joseph und König Edward VII.. Auf den Höfen Bayerns, Sachsen und anderer deutscher Fürsten war er gern gesehen. Die zweite Urlaubshälfte verbrachte er in England bei Freunden, in Dunbar in Schottland bei Wingate und natürlich in den Königsschlössern Balmoral, Windsor oder Sandrigham.
In den Wintermonaten lud er Berühmtheiten und Fürsten zu sich nach Khartum ein. Ägypten war zu einem bevorzugten „Winterfluchtort” der reichen Europäer geworden, und eine Fahrt nilaufwärts sowie ein Besuch bei Slatin Pascha in Khartum gehörten zum Reiseprogramm. Die Hoheiten konnten hier auch der damals weit verbreiteten Jagdleidenschaft frönen, denn Slatin war ein leidenschaftlicher Jäger. Auch zahlreiche Repräsentanten österreichischer Adelsgeschlechter wie die Kinskys, die Auerspergs oder die Liechtensteins waren bei ihm zu Gast.
Erhebung zum Freiherrn
Im Oktober 1906 wurden Rudolf und sein Bruder Heinrich in den Rang von Freiherren erhoben, aus der fünfzackigen Krone wurde eine siebenzackige. Rudolfs Abbildung des Wappen über dem Eingang der Spitzvilla, schematisch. Das Wappen zeigt eine hohe, den Sudan bezeichnende Palme; einen schwertschwingenden Löwen, der eine zerbrochene Kette hinter sich herzieht, die symbolische Darstellung der Leiden und Kämpfe Slatins im Sudan; sowie einen Stern zwischen zwei Waagschalen, Bedeutung unbekannt (deutet möglicherweise auf die Verbundenheit Slatins mit zwei Monarchen, zwei Ländern und sein Bemühen um Ausgleich hin). Das Motto „festina lente (Eile mit Weile)” ist nicht abgebildetWappen wurde, zusammen mit dem Adelspatent, am 27. Juni 1907, zwei Monate vor dem ersten Treffen mit Kaiser Franz Joseph und König Edward VII. in Bad Ischl, registriert. Im August wurde Slatin Pascha zu britischen Generalmajor ehrenhalber ernannt, so daß er im darauffolgenden August König Edward VII. in der Uniform eines englischen Generalmajors auf dem Bahnsteig von Bad Ischl begrüßen konnte.
Loyalitätskonflikt
1909 zeichnete sich erstmals ein Loyalitätskonflikt für Slatin ab: Österreich-Ungarn hatte Bosnien und die Herzegowina annektiert. Zwar waren diese türkischen Provinzen bereits seit 1878 von österreichischen Truppen besetzt, aber die Annexion führte doch zu einem Proteststurm in Europa. Die Verstimmung war auch zwischen den beiden Monarchen, und davon war Slatin direkt betroffen. Franz Joseph reiste nicht nach Marienbad, Edward VII. nicht nach Bad Ischl, und Slatin gab in der Neuen Freien Presse eine gewundene Stellungnahme ab. Letztlich war das aber nur das Vorspiel der kommenden Ereignisse, die dann in die Explosion von 1914 mündeten.
Am 7. Mai 1910 starb König Edward VII., „Der denkbar schwerste Verlust für mich!”, wie Slatin in seinem Tagebuch vermerkte. Die beiden Männer hatten ein enges, fast Die Zuneigung Edwards zu Slatin Pascha zeigte sich etwa darin, daß er am 16.August 1907 seinen königlichen Privatzug unplanmäßig in Traunkirchen halten ließ, um mit Slatins Schwestern plaudern zu können.freundschaftliches Verhältnis zueinander, waren beiden den Vergnügungen und Genüssen des Lebens zugewandt. Mit Edwards Sohn George V. erreichte Slatin nie mehr dieses Verhältnis unbeschwerter Intimität, hatte aber dennoch eine gute Beziehung zu ihm. Denn schon im September waren er und Wingate wieder in Balmoral. Und im Juni 1911 war er natürlich Gast bei der Krönung von König George V. und Königin Mary, den Großeltern von Königin Elizabeth II.
Lady Alice von Slatin
Über Slatins Liebesleben ist nur wenig bekannt. Er war - nach mohammedanischem Ritus - mit einer einheimischen Königstochter verheiratet gewesen. In der Gefangenschaft und später als Generalinspekteur hatte er Konkubinen, und wahrscheinlich gab es auch Beziehungen zu europäischen Frauen.
Slatin korrespondierte auch mit einigen Frauen, eine von ihnen war Alice von Ramberg. Sie führte den Haushalt ihre unverheirateten Bruders Victor Freiherr von Ramberg, einem Arbeitskollegen von Heinrich von Slatin beim k.u.k. Oberststallmeisteramt. Die Rambergs standen in der österreichischen Adelshierarchie eindeutig über den Slatins. Der Großvater hatte sich bei der Schlacht von Waterloo hervorgetan und war 1849 von Kaiser Franz Joseph in den Adelsstand erhoben worden. Der Vater von Alice, ebenfalls Berufssoldat, beendete seine Karriere als General der Kavallerie.
Die Heirat
Ab 1903 korrespondierten die Slatin und Alice miteinander, und aus der Briefbeziehung entwickelte sich Freundschaft und schließlich Liebe. Am 21. Juli 1914 heiratete der 57-jährige Sir Rudolf von Slatin Pascha die 41-jährige Alice Baronin von Ramberg in der Wiener Votivkirche.
Für Slatins doch späte Heirat - obwohl er der Ehe durchaus nicht abgeneigt war - gab es wohl mehrere Gründe. Zum einen langte sein Gehalt als Generalinspekteur gerade eben, um seinen doch kostspieligen Lebenswandel als Junggeselle zu finanzieren. Verheiratet hätte er für eine entsprechende Ausstattung seiner Frau Sorgen müssen - was er sich einfach nicht leisten konnte, denn er besaß weder Grundbesitz noch Kapital. Hier hätte eine reiche Erbin oder wohlhabende Witwe Abhilfe schaffen können. Aber da gab es auch noch religiöse Probleme, denn eigentlich hatte Slatin den katholischen Glauben abgelegt und war zum Islam konvertiert - wenn auch nicht freiwillig und der Not gehorchend.
Slatins schwierige gesellschaftliche Stellung
Am schwerwiegendsten aber war das Problem der „gesellschaftlichen Stellung”. Slatin war ein Mann zwischen den Religionen und Imperien, aber auch zwischen den Klassen. Gewiß, er war in den Adelsstand beider Imperien erhoben worden, hatte zahllose Orden und Auszeichnungen. Er war berühmt und als Gast in den höchsten Kreisen willkommen. Aber bei aller Wertschätzung blieb er doch ein „gewöhnlicher kleiner österreichischer Abenteurer”, wie es etwa die Stieftochter des Befehlshabers der britischen Besatzungsstreitkräfte in Ägypten, die ihn sehr schätzte, in ihrem Tagebuch notierte. Und der Sohn seines Freundes Wingate bemerkte zu dem Thema:
„Es hätten sich ohne Zweifel gesellschaftliche Hindernisse in den Weg gestellt, wenn er jemals daran gedacht hätte, eine Europäerin aus der höchsten Gesellschaftsschicht zu heiraten, in der er ständig verkehrte. Sein Ruhm und seine Stellung hatten es ihm ermöglicht, Zugang zu einer Gesellschaftsklasse zu finden, die hoch über jener stand, in die er hinein geboren war.” (Sir Robert Wingate, zit. nach Brook-Shepherd, Slatin Pascha)
Noch viel schwieriger war die Situation für Slatin in Österreich. Die Hocharistokratie gab viel auf Zeremoniell und Protokoll, Abstammung war unabdingbar. Schon der Freiherrntitel machte Slatin dem österreichischen Geburtsadel verdächtig. Denn zum Adel zählte erst, wer einen Jahrhunderte alten Grafentitel hatte. Dazu kam, daß er in Wien natürlich nicht über jene Kontakte verfügte, die er als hoher Kolonialbeamter, General und Träger hoher Orden in England zu den Angehörigen der guten Gesellschaft hatte. Die standesbewußten Österreicher akzeptierten ihn bestenfalls als Gast, aber nicht als Zugehörigen. Er wurde nicht, wie bei Standesgenossen üblich, mit „Du” angesprochen, sondern mit „Sie”. In den innersten Kreis der ersten Gesellschaft Wiens konnte er nicht vordringen, auch wenn er mit dem Kaiser in Bad Ischl und Marienbad gewesen war.
Eine Bürgerliche allerdings hätte Slatin auch nicht heiraten können, mit ihr hätte er einiges von seiner glänzenden Position in der europäischen Gesellschaft verloren. Prinzessinnen und Gräfinnen waren außerhalb seiner Reichweite. So erfüllte Alice von Ramberg perfekt die Anforderungen. Aber auch hier schlug der Standesdünkel noch durch, denn ihre Großmutter, Gräfin von Brenda, war nur aufgrund seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen Stellung bereit, über ihren „gräflichen Schatten” zu springen und seine „bürgerliche Herkunft” zu akzeptieren.
Auch wenn die Verlobten alle Hindernisse (u.a. Slatins religiöses Bekenntnis und die Abneigung der Schwestern in Traunkirchen gegen die Heirat) überwinden konnten, stand die Hochzeit doch unter keinem guten Stern. Nur wenige Wochen zuvor war der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet worden. Und diese Schüsse sollten Europa in Brand setzen und Slatins Welt für immer zerstören.
Der Erste Weltkrieg
Der Untergang von Slatins Welt
Die Hochzeitsreise führte nach Cortina d'Ampezzo in Südtirol, und obwohl auch Slatin die drohende Kriegsgefahr sah, fühlte er sich persönlich nicht betroffen und überlegte sogar, früher als geplant in den Sudan zurückzukehren.
Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, was eine entsprechende Kettenreaktion in den einander gegenüberstehenden Bündnissen Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Königreich Italien, das Osmanische Reich) und Entente (Russland, Frankreich, Großbritannien) auslöste. Aber noch herrschte zwischen Österreich und England kein Kriegszustand, und Slatin bemühte sich um einen Paß für sich und seine Frau, um sich Kitchener und Wingate in Marseille auf ihrem Weg in den Sudan anschließen zu können. Am 12. August 1914 erfuhr das Ehepaar Slatin in Triest von der Kriegserklärung Großbritanniens an Österreich-Ungarn. Offenbar mitgerissen von der Welle der Kriegseuphorie, die das Land überschwemmte, entschloß sich Slatin, nicht in den Sudan zurückzukehren, sondern seinem Vaterland und insbesondere seinem Kaiser zu dienen.
Slatin entscheidet sich für Österreich
„Ich bin überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Zuerst einmal bin ich Österreicher, und noch dazu Wiener. Als solcher ist es für mich unmöglich, einem England zu dienen, das sich mit meinem Vaterland im Krieg befindet.” (Tagebucheintrag, zit. nach Vogelsberger, Slatin Pascha)
Es war eine ünglückliche und für seinen weiteren Lebensweg nachteilige Entscheidung, die Slatin im Überschwang seiner patriotischen Gefühle traf. Das Österreich, dem er dienen wollte, hatte keine Verwendung für einen 57jährigen General der ägyptischen Armee, denn hier war er nach wie vor nur Leutnant der Reserve. Zu vermuten ist auch, daß das militärische Österreich Slatin mißtraute. Schließlich hatte er seine Karriere de facto in britischen Diensten absolviert, war Träger hoher englischer Orden und verfügte über beste Kontakte zu hochrangigen englischen Persönlichkeiten, von König George V. abwärts.
Rücktritt als Generalinspekteur des Sudan
Slatin Pascha übermittelte sein offizielles Rücktrittsgesuch als Generalinspekteur des Sudan über den amerikanischen Geschäftsträger in Wien, Frederic Penfield. In einem beigefügten persönlichen Schreiben versuchte er, seinem Freund „Rex” Wingate seine Entscheidung und Position zu erklären. Wingate seinerseits versuchte noch im September, Slatin zur Rückkehr in den Sudan mit dem Hinweis zu bewegen, daß aufgrund einer Sonderregelung es „Untertanen von kriegsführenden Staaten” erlaubt sei, ihr Amt im Sudan auch in Kriegszeiten auszuüben. Slatin aber hatte sich für Österreich entschieden, und er opferte seine langjährige und bewährte Freundschaft seinem Vaterland zuliebe.
Möglicherweise spürte er das Mißtrauen der militärischen Kreise Österreichs, denn er unterbreitete dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold eine Reihe von Vorschlägen, wie die britische Position im Sudan geschwächt werden könnte. Diese sicherlich interessanten Ideen wurden auch dem türkischen Großversir Said Pascha übermittelt, der sie jedoch nicht weiter verfolgte. Auch er mißtraute Slatin und unterstellte ihm ein Doppelspiel. Slatin hatte sich damit in die Nesseln gesetzt: nicht nur war er von dieser Seite her diskreditiert, sondern auch die englische Seite erfuhr von seinen Vorschlägen, was ihm den Ruf eines Verräters einbrachte, der fast für den Rest seines Lebens an ihm haften blieb.
Aber das Vaterland hatte bis auf weiteres keine Verwendung für Slatin, alle seine Bemühungen blieben erfolglos und brachten ihm nur den Titel eines „Geheimrats” ein - ohne Pflichten, ohne Gehalt, nur verbunden mit der Anrede „Exzellenz”. Trotz seiner Titelsucht war das nur ein schwacher Trost für Slatin.
Tätigkeit beim Roten Kreuz
- König Haakon VII. von Norwegen, 1905
Foto Wikipedia
Im September 1915 fand sich endlich ein halbwegs adäquater Posten. Auf Anregung des Kriegsministers wurde er zum Vizepräsidenten des Kriegsgefangenenausschusses des Österreichischen Roten Kreuzes und zum Stellvertretenden Direktor des zentralen Informationsbüros für Kriegsgefangene ernannt. Slatin war zunächst nicht sehr begeistert, denn er konnte hier nicht sein Blut im Dienste des Monarchen vergießen. Allerdings brachte ihm die Position den Vorteil, alle neutralen Hauptstädte Europas bereisen zu können und über die britischen Vertretungen mit seinen alten Freunden in England, die ihm immer noch die Treue hielten, zu korrespondieren.
Zweifellos war Slatin der geeignete Mann für diese Position, und dank seiner internationalen Beziehungen und Kontakte zu allerhöchsten Kreisen konnte er für die österreichischen Gefangenen einiges erreichen und ihr Leid lindern. So gelang es ihm etwa, den norwegischen König Haakon VII. dazu zu bewegen, sich für die österreichischen Kriegsgefangenen in Russland einzusetzen und ihnen 150.000 Paar Stiefel zukommen zu lassen.
Slatins Friedensbemühungen
Am 12. November 1916 wurde seine Tochter Anna Marie Helene geboren, der Slatin ein vorbildlicher und zärtlicher Vater war, obwohl er sich ursprünglich einen Sohn gewünscht hatte. Vielleicht auch deswegen und weil sein Hurrapatriotismus einer Friedenssehnsucht gewichen war, versuchte er sich, wenn auch seinen Einfluß und seine Möglichkeiten überschätzend, als Friedensstifter, vor allem natürlich zwischen Österreich und England - eine Rolle, an die sich heute noch kaum jemand erinnert und die auch nicht mit seinem Namen assoziiert wird.
Kaiser Franz Joseph I. war am 21. November 1916 86-jährig verstorben, und sein Großneffe und Nachfolger Karl I. bemühte sich um einen Separatfrieden mit Frankreich (Sixtus-Affäre). Ob und inwieweit Slatin, der oft mit dem Kaiser zusammentraf, hier involviert war, ist historisch nicht mehr zu klären. Allerdings - und wahrscheinlich vom Kaiser ermuntert - versuchte er über Dänemark, einen Separatfrieden zwischen Österreich und England zu vermitteln, scheiterte allerdings in dieser Mission.
Ende und Neubeginn
Am 12. November 1918 waren die Donaumonarchie und damit die Welt Slatins Geschichte. Die Republik Deutsch-Österreich wurde gegründet, aus dem Riesenreich war ein kleiner, als lebensunfähig angesehener Rumpfstaat geworden. Die Welt, die Slatin gekannt und gebliebt hatte, existierte mit einem Mal nicht mehr. Aber obwohl er mit der Republik nie so recht warm wurde, versagte er ihr nicht seine Dienste.
Slatin reiste mit Frau und Tochter nach Bern, wo er seine Rot-Kreuz-Mission abschließen wollte, erkrankte jedoch unmittelbar nach seiner Ankunft und wurde mit Bronchitis und Herzschwäche in die Klinik „Victoria” eingeliefert. Dort erreichte ihn am 9. Dezember ein Telegramm des Staatssekretärs für Auswärtige Angelegenheiten, Dr. Otto Bauer. Dieser ersuchte ihn, sich für die Wiederaufnahme der tschechoslowakischen Kohlelieferungen an Wien einzusetzen, was Slatin auch gelang. Danach wandte er sich seiner prekären finanziellen Lage zu und konnte mit Unterstützung seiner englischen Freunde die Wiederaufnahme seiner Pensionszahlungen aus dem Sudan erreichen.
Slatin in St. Germain
Im Mai 1919 ersuchte ihn Dr. Otto Bauer, als Mitglied der österreichischen Delegation an der Pariser Friedenskonferenz teilzunehmen. Nach einiger Bedenkzeit stimmte der noch immer kränkelnde Slatin zu und blieb bis zum August in St. Germain. Seine Aufgabe war vor allem, die ehestmögliche Entlassung der österreichischen Kriegsgefangenen aus den Lagern in Sibirien und Italien zu erreichen.
Obwohl seine Bemühungen erst langfristig Erfolg hatten, hinterließ er bei Staatskanzler Dr. Karl Renner einen so guten Eindruck, daß ihn dieser als Botschafter nach England entsenden wollte. Slatin lehnte dieses Ansinnen nach längerem Überlegen ab. Er war sich keineswegs sicher, ob man ihn am Hof von St. James so willkommen heißen würde, wie Renner hoffte. Seine Ernennung wäre der britischen Regierung wohl nicht angenehm gewesen.
Denn sein Ansuchen an das britische Außenministerium vom 10. September 1919, England als Privatmann besuchen zu dürfen, war formlos und unpersönlich „Der Under Secretary teilt Mr. Slatin in Beantwortung seines Briefes vom 10. ds. mit, daß eine Erlaubnis für seine Rückkehr in das Vereinigte Königreich nicht gegeben werden kann.” (zit. nach Brook-Shepherd, Slatin Pascha)abgelehnt worden. Mehr noch als die Ablehnung selbst schmerzte den zwei Mal zum englischen Ritter geschlagenen österreichischen Baron und ägyptischen Generalleutnant die mit Schreibmaschine in den Vordruck eingefügte Anrede Mr. Slatin. Slatin war nach 62 Jahren in seiner Wahlheimat England wieder zum Niemand geworden. Und nach der Zurückweisung durch England war er auch ein Heimatloser, denn in der neuen österreichischen Republik fühlte er sich nicht zu Hause.
Private Schicksalsschläge
Zwei weitere Schicksalsschläge verdüsterten Slatin den Herbst von 1919: seine Frau Alice erkrankte plötzlich schwer an einem Darmverschluß. Vorbote ihrer Krebserkrankung, an der sie zwei Jahre später sterben sollte. Und sein Freund Wingate kehrte nicht mehr in den Sudan zurück, sondern wurde pensioniert und durch Lord Allenby als Hochkommissar Ägyptens ersetzt. Damit waren alle Verbindungen zum Sudan endgültig gekappt.
Im Dezember desselben Jahres gab es jedoch wieder einen Lichtblick, ihm wurde ein sechswöchiger Englandaufenthalt gestattet. Nun konnte er langsam wieder versuchen, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Aber trotz eines privaten Empfangs bei König George blieb er bis auf weiteres ein feindlicher Ausländer, der den Schandfleck des Verrats an England nicht von seinem Wappenschild zu wischen vermochte.
Tod von Alice Slatin
Als am 26. Juni 1921 seine Frau Alice starb, glitt Slatin in den Winter seines Lebens. Er hatte diese Frau mehr geliebt, als ihm selbst bewußt gewesen war, und der Verlust traf ihn umso schwerer. Er begrub sie an einem sonnigen Berghang auf dem kleinen Dorffriedhof von Les Planches in Territet-Cologne bei Montreux - ein Ort, den sie sehr geliebt hatte. Nie hatte sie sich über ihre Ehe, die eigentlich ein Trauerspiel war, beklagt: überschattet vom Krieg, der ihren geliebten Gatten zerrissen hatte, ein fast zweijähriger Kampf gegen eine Krankheit, der sie am Ende erlag.
Die Tochter Anna Marie Helene
Den Rest seines Lebens verbrachte er in der Sorge um seine Tochter Anna Marie Helene und der Sicherung ihres Fortkommens. Slatin war mittlerweile 63, gesundheitlich etwas angeschlagen, und er wollte ihr nicht nur ein entsprechendes Einkommen, sondern auch einen Platz in der Gesellschaft - natürlich der englischen, in der österreichischen gab es für sie keine Chance - sichern. Sein Plan, dauerhaft nach England zu übersiedeln, scheiterte, da ihm die englische Staatsbürgerschaft verwehrt wurde. Und wohl zum ersten Mal in seinem Leben kämpfte er nicht dagegen an, sondern resignierte, alt und müde geworden.
Ãœbersiedlung nach Meran
- Goesseln, Slatins Alterswohnsitz „Villa Mathilde” in Obermais/Südtirol/Italien, 3. April 2010
Foto Wikipedia
Sein letztes Heim fand er schließlich in Obermais in der Nähe von Meran in Südtirol. Dort mietete er 1923 die „Villa Mathilde”. Das milde Klima war ihm sehr angenehm, denn er entwickelte sich im Alter zum Hypochonder. Er zog sich in seine eigene innere Welt, in die Welt der Erinnerungen, der Triumphe und Erfolge, der rauschenden Feste zurück. Er lebte in seiner Villa wie ein Eremit und wehrte unliebsame Eindringlinge und unerwartete Besucher ab.
Seine ewige Sorge galt seiner finanziellen Lage, denn er ein zwar begüterter, aber nicht unbedingt reicher Pensionist. Vor allem ging es ihm um die Sicherstellung der Finanzen seiner Tochter. Er schickte sie auf die besten Eliteschulen und schuf die Voraussetzungen, daß sie nach seinem Tod nicht nur ein sorgenfreies Leben führen konnte, sondern auch eine attraktive Partie darstellen sollte. Und nach wie vor konnte er sich einen jährlichen zweimonatigen Englandaufenthalt leisten. Hier knüpfte und pflegte er die Kontakte für seine Tochter.
Die letzten Jahre
Letzte Reise in den Sudan
1926 ging für ihn ein Traum in Erfüllung, den er seit 1914 träumte und an den er schon nicht mehr geglaubt hatte. Im November reiste er noch einmal nach Kairo und weiter nach Khartum und fand eine völlig veränderte Welt vor: wo einst die Kamele das Bild bestimmt hatten, regierten nun die Automobile. Das Land, das er vorfand, war nicht mehr „sein” Sudan, die Stadt nicht mehr „sein” Khartum. Nur noch die Erinnerungen waren geblieben.
Und ein zweites, für Slatin sehr wichtiges Ereignis bestimmte das Jahr: er erhielt die Erlaubnis, seine englischen Orden wieder zu tragen. Auch der König empfing ihn wieder offiziell: am 22. Juli 1927 wurde er zu einem königlichen Gartenfest eingeladen.
Schwere Erkrankung
Mitte 1928 erkrankte Slatin ernsthaft und erlitt einen heftigen Anfall von Angina pectoris, der ein für einen Monat ans Krankenbett fesselte. Im darauffolgenden Jahr stabilisierte sich sein Gesundheitszustand einigermaßen, aber er verlor seinen Bruder Heinrich, zu dem er zeitlebens ein enges Verhältnis gehabt hatte. Im Herbst erkrankte auch noch seine Tochter Anna Marie schwer und wurde in ein Gebirgssanatorium aufgenommen. Slatin, der die Höhe nicht vertrug, mußte Weihnachten alleine in Obermais feiern. Seine Kräfte erlahmten zusehends, seine Gedanken kreisten nur noch um das Wohlergehen und die Zukunft seiner Tochter. Und er betete um die Kraft, noch eine Weile für sie sorgen zu können:
„Ich bete darum, daß der Allmächtige Anna Marie Gesundheit und Freude geben und meinen Zustand bessern möge, damit ich noch eine Weile für mein liebes Kind sorgen kann.” (Tagebucheintrag Ende 1930, zit. nach Vogelsberger, Slatin Pascha)
Erfüllung seines letzten Wunsches
- Slatin Pascha mit seiner 16jährigen Tochter vor dem Empfang im Buckingsham Palast, 24. Juni 1932
Foto © FISCHERFILM/THIMFILM
Sein größter Wunsch war, Anna Marie am englischen Königshof präsentieren zu dürfen. Dafür kämpfte er in den letzten Jahren seines Lebens gegen seine Krankheiten und die zunehmende Schwäche. 1931 mußte er sich einer gefährlichen Operation unterziehen, ein bösartiges Gewächs mußte entfernt werden. Slatin wußte, daß ihm nicht mehr allzu viel Zeit bleiben würde. Er schrieb an Wingate, daß er noch ein letztes Mal nach England reisen und den König um eine allerletzte Gnade bitten wolle: seine über alles geliebte Tochter dem Königspaar vorstellen zu dürfen.
Sowohl Wingate als auch der König wußten, wie es um Slatin stand, und er akzeptierte Slatins letzten Wunsch. Wingate konnte Slatin mitteilen, daß König und Königin „selbstverständlich damit rechneten”, Slatin Paschas Tochter Anna Marie kennenzulernen, wenn er sie „nach England mitbrächte”.
Am 7. Juni 1932 feierte Slatin seinen 75. Geburtstag. Ein letztes Mal erinnerte sich die Welt an ihn. Der österreichische Bundespräsident Wilhelm Miklas würdigte ihn in einem vier Seiten langen Brief, Wien verlieh ihm das Ehrenbürgerrecht.
Und nur wenige Tage danach erreichte er sein letztes Ziel: am 24. Juni speisten er und seine Tochter als Privatgäste seiner Majestät George V. und seiner Gattin Königin Mary zu Mittag im Buckingham Palast. Diese letzte Audienz seines Leben war für Slatin wohl ein erhebender Moment: seine Tochter hatte gute Figur gemacht und mit ihrem ersten Auftritt beim englischen Königshaus auch den ersten Schritt in die allerfeinste Gesellschaft Englands gesetzt.
Über Anna Maries weiteres Leben ist nicht viel bekannt. Sie lebte in England und heiratete 1943 Major Prinz George Galitzine. Das Paar ließ sich 1954 scheiden, und Anna Marie heiratete 1956 Arthur Mountifort Longfield Ponsonby, 11th Earl of Bessborough. 1963 wurde auch diese Ehe geschieden. Sie starb 91jährig am 27. November 2007.
Slatin Paschas Tod
Slatin Pascha mußte vorzeitig nach Österreich zurückkehren. Auf dem Heimweg flog er zum ersten Mal mit einem Flugzeug, gönnte sich einige Tage in Paris und fuhr dann nach Bad Hall zur Kur. Von dort an das Wiener Cottage-Sanatorium überwiesen, konnte man nur noch eine inoperabel gewordene Krebsgeschwulst feststellen. Er sollte das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen und starb am 4. Oktober 1932.
Sein Begräbnis auf dem Friedhof von Ober St. Veit (Sektor C, Reihe 7, Grab 7) in Wien glich einem Staatsbegräbnis. Bundespräsident Wilhelm Miklas war ebenso anwesend wie - in Vertretung von König George V. - der britische Botschafter in Wien, Sir Eric Phipps, österreichische und britische Generäle, Diplomaten und Aristokraten. Die Vertreter jener Gesellschaft, in der er emporgeklommen war und in der er einen ganz besonderen Platz eingenommen hatte, gaben ihm die letzte Ehre.
Was bleibt
- Hinweis auf Slatin Pascha an der Spitzvilla
Traunkirchen, August 2012
Foto © Walter Reinthaler/www.bilderreisen.at (cc)
Rudolf Slatin Pascha ist heute, trotz seiner Verdienste um dieses Land, in Österreich weitgehend vergessen und einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt. Dennoch gibt es noch einige Erinnerungsstücke an ihn: da ist das Grab am Friedhof Ober St. Veit und die Slatin-Gasse, beide in Wien-Hietzing. Das Bezirksmuseum Hietzing bewahrt sein Schwert auf. In Traunkirchen steht die Spitzvilla, das Haus seiner unverheirateten Schwestern Marie und Leopoldine Slatin, heute ein Café und gutes Restaurant. Am 19. Mai 1967 wurde im ZDF das Dokumentarspiel 'mit Christian Ghera (Slatin Pascha), Hermann Kiessner (Gordon Pascha), Lutz Moik (Dr. Zurbuchen), Kurd Pieritz (Major Hunter), Günther Kieslich (Oberst Wingate), Herbert Weicker (Mahdi), Inge Osterloh (Khalifa), Abach Antar (Zogal Bey), Stanislav Ledinek (Hamada Effdi), Helmut Hildebrand (Messedaglia), Jalal Bourgiba (Sultan Harun), Fritz Schubert (Pater Ohrwalder). Regie: Wolfgang Schleif. Drehbuch: Hermann Kugelstadt, Wolfgang Bretholz„Slatin Pascha” ausgestrahlt. Und im Juni 2012 kam der österreichische Film „Slatin Pascha” in die Kinos.
Slatin Pascha - Im Auftrag Ihrer Majestät. Dokumentarfilm, 90 Minuten, Österreich 2012 (Thimfilm/FischerFilm).
Regie: Thomas Macho, Drehbuch: Thomas Macho, Kamera: Hermann Dunzendorfer, Musik: Markus Pöchinger. Darsteller: George Galitzine, John Kon Kelei, Alexander Galitzine,
Anna Maria Ponsonby.
Es ist die verrückte Geschichte eines Abenteurers, geboren 1857 in Wien/Ober St. Veit: Slatin Pascha. Als 17-jähriger bricht er die Schule ab, reist in den Sudan und wird mit 22 Jahren Gouverneur von Darfur! Er gerät in die Hände des Mahdi, nahezu 12 Jahre lang verbringt er als Gefangener in Khartum. Nach seiner Flucht wird er zum Bestsellerautor, zum „Darling” von Queen Victoria, zum mehrfach geadelten Salonlöwen und bringt es bis zum General in britischen Diensten. Ein Hollywood-tauglicher Stoff, aufgespürt vom Dokumentarfilmer Thomas Macho. Gemeinsam mit Slatins Enkelsohn George Galitzine begibt sich Macho auf den Spuren Slatin Paschas in den Sudan und entdeckt ein Land zwischen 19. und 21. Jahrhundert.
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