Jugend
- Saul Leiter im Haus der Photographie in den Deichtorhallen Hamburg, 2012
Foto © Matthias Schönebäumer / Deichtorhallen
Saul Leiter wurde als Sohn des aus Osteuropa eingewanderten Rabbiners Wolf Leiter und seiner Frau Regine Leiter, geb. Goldberg, geboren. Auch er sollte Rabbi werden und besuchte in den 1930er-Jahren die Talmudical Academy in New York City. Ca. 1935 erhielt er von seiner Mutter eine Detrola-Kamera, mit der er gelegentlich fotografierte. Zu dieser Zeit erwachte wohl auch sein Interesse an der Malerei, und er studierte er in den Bibliotheken Kunstbücher zur Malerei. Inspiration fand er bei Malern wie Vermeer, Bonnard, Vuillard und Picasso, aber auch in der japanischen Druckgrafik. Ab 1940 malte er lyrisch abstrakte Kompositionen, die seine Bewunderung für die neue amerikanische Avantgarde der abstrakten Künstler ausdrückten.
Abkehr von der Rabbinerlaufbahn
Noch in den frühen 1940er-Jahren besuchte Saul Leiter das Telshe Yeshiva Rabbinical College in Cleveland. Nach Malereiausstellungen in Cleveland, Pittsburgh und San Francisco wandte er sich zur Enttäuschung seines Vaters von der Rabbinerlaufbahn ab und der Malerei zu. 1947 verließ er Pittsburgh und zog nach New York. Dort befreundete er sich mit dem abstrakt-expressionistischen Maler Richard Poussette-Dart, Vertreter der „New York School”.
1947 wird eines seiner Gemälde in der Ausstellung „Abstract and Surrealist American Art” im Art Institute von Chicago ausgestellt. Leiter nimmt an einer Malereiausstellung im Butler Institute of American Art, Youngstown, Ohio, teil und freundet sich mit W. Eugene Smith an.
Hinwendung zur Fotografie
Von Poussette-Dart wird er in seiner Hinwendung zur Fotografie bestärkt. Stark beeinflußt von André Kertész's Buch über Paris und der Ausstellung von Henri Cartier-Bresson 1947 im MoMA, erkennt er Fotografie für sich als eine andere Art von Kunst, und wendet sich verstärkt dieser künstlerischen Ausdrucksform zu.
Um 1948 beginnt er, mit Kodakchrome-Farbdiafilmen zu fotografieren, und verwendet dabei die drei Kameras Argosy C3, Auto Graflex Junior und eine frühe Rolleiflex. 1951 publiziert LIFE im September seine Schwarz-Weiß-Serie „The Wedding as a Funeral”; und im November „Shoes of the Shoeshine Man”. 1952 zieht Saul Leiter in die East 10th Street im Künstlerviertel East Village.
- Ausstellungsansicht „Always the Young Stranger” im Museum of Modern Art, 26. Februar - 1. April 1953
aus der Ausstellung „Saul Leiter” im Kunst Haus Wien, Frühjahr 2013
1953 nimmt er auf Einladung von Edward Steichen an der Ausstellung „Always the Young Stranger” im Museum of Modern Art, New York, teil.
Pionier der künstlerischen Farbfotografie
In den frühen 1950er-Jahren hält Saul Leiter einen Diavortrag über seine Farbarbeiten in The Club, einem Kunstraum im East Village, und stellt Farbfotografien in der Kootz Gallery, New York, aus. 1957 illustriert Steichen seinen Vortrag „Experimental Photography in Colour” im Museum of Modern Art in einer Diashow mit 20 Dias von Saul Leiter. Henry Wolf, Art Director des Esquire, veröffentlicht einige von Leiters Modefotografien.
Bis in die 1970er-Jahre wurde Farbfotografie praktisch ausschließlich für Werbung und in Modezeitschriften benutzt. Die extrem gesättigten Farben erschienen vielen Fotografen als ungeeignet für einen künstlerischen Ausdruck. Der große Henri Cartier-Bresson etwa blieb Zeit seines Lebens der Schwarz-Weiß-Fotografie treu. Es gibt nur wenige Aufnahmen in Farbe von ihm, kommerziellen Aspekten geschuldet. Er war der Auffassung, die Farbfotografie sei einfach nicht imstande, die Farben der Welt wirklichkeitsgetreu wiederzugeben.
Seit sich Saul Leiter ab 1947 mit der Farbfotografie befasste, verwendete er den 1936 auf dem Markt gekommenen Kodakchrome-Farbdiafilm. Der standardisierte, komplizierte Entwicklungsprozess brachte eine bessere und stabilere Farbgenauigkeit und -zuverlässigkeit als der Farbfilm. Der Nachteil war, daß jedes Dia ein Original war, von dem Kopien schwer und Vintage-Prints praktisch nicht herstellbar waren. Die Redaktionen behielten oft die Dias, so daß es heute von vielen Aufnahmen keine Original-Prints gibt.
Tatsächlich wurde die künstlerische Farbfotografie erst in den 1970er-Jahren durch die Vertreter der „New Color Photography”, William Eggleston, Joel Sternfeld und Stephen Shore, salonfähig. Saul Leiter hatte, auch weil er Maler war und die Farben liebte, keine Bedenken gegen Farbfotografie.
„Die älteren fotoästhetischen Ansichten zur Hegemonie von Schwarz-Weiß und die fotohistorischen Datierungen des künstlerischen Einsatzes von Farbfotografie erst ab den 1970er-Jahren sind wohl einer kritischen Revision zu unterziehen. Mit Saul Leiters Werk ist die Fotogeschichte bereits faktisch umgeschrieben.” (Ingo Taubhorn, Kurator).
Saul Leiter kaufte, nicht zuletzt aus Kostengründen, für seine freien Arbeiten abgelaufenes Filmmaterial, was zu den spezifischen Pastelltönen in seinen Fotografien führt und seine Bildaussage hervorragend unterstreicht.
Der Modefotograf
- Saul Leiter, Sondra Peterson für Harper's Bazaar, Juni 1962
Als Henry Wolf 1958 Art Director bei Harper’s Bazaar wird, beginnt Saul Leiter, für dieses Modejournal zu fotografieren. Bis 1980 arbeitet Leiter vor allem als Modefotograf, unter anderem für Harper's Bazaar, Elle, Show, Vogue, Queen and Nova. Seine unverwechselbare Bildsprache, beschränkt auf Ausschnitte, Spiegelungen, oft verschwommen, flächig, mit nur einem kleinen scharf fokusierten Teil, behält er weitgehend auch in der Modefotografie bei.
1959 reist er für einen Auftrag von Esquire nach Europa. Er fotografiert Gina Lollobrigida während der Dreharbeiten zu „Salomon and Sheba” in Madrid.
Mit Beginn der 1980er-Jahre ändert sich der Stil der Modefotografie, die Arbeiten von Saul Leiter sind nicht mehr nachgefragt, die kommerziellen Aufträge nehmen ab. 1981 schließt er daher sein Studio in der Fifth Avenue. Fortan führt er ein ruhiges Leben fernab der Öffentlichkeit.
Werk und Bedeutung
Saul Leiter ist der wohl früheste Protagonist der künstlerischen Farbfotografie. Aber nicht daraus resultiert die Bedeutung des Spätentdeckten für die Fotografie. Seine Farbfotos sind nahe dem abstrakten Espressionismus, die Schwarz-Weiß-Bilder der Versuch, das Abstrakte einzufangen. In seinen meist hochformatigen Aufnahmen fließen die Genres der Street-, Life-, Porträt-, Still-, Mode- und Architekturfotografie zusammen.
Saul Leiter hat sich immer sowohl als Maler als auch als Fotograf verstanden. In seiner Malerei wie auch in seinen Fotografien tendiert er deutlich zu Abstraktion und Flächigkeit. Oft findet man große, tiefschwarze, von Schatten hervorgerufene Flächen, die bis zu drei Viertel seiner Fotografien einnehmen. Passanten werden nicht als Individuen in das Bild gerückt, sondern als verschwommene Farbimpulse, überlagert von Scheiben oder eingekeilt zwischen Hauswänden und Verkehrszeichen. Die Übergänge zwischen Abstraktion und Figurativem in seinen Malereien und Fotografien sind nahezu nahtlos. Saul Leiters Straßenfotografie - damit ist er beispiellos in diesem Genre - ist eigentlich Fotografie gewordene Malerei. Er lenkt die Aufmerksamtkeit auf das Verborgene, und will dem Betrachter damit das Sehen lehren. Zweifellos ist er der Literat unter den Fotografen.
„Leiter is a rare artist, one whose vision is so encompassing, so refined, so in touch with a certain lyrical undertone, that his best photographs occasionally seem literally to transcend the medium.” (Jane Livingston)
Er findet seine Motive wie Schaufenster, Passanten, Autos, Schilder und immer wieder Regenschirme in der unmittelbaren Umgebung seiner New Yorker Wohnung, die er seit fast 60 Jahren bewohnt. Die Unschärfe im Detail, die Verwischung von Bewegung und die Minderung der Tiefenschärfe, der Ausgleich oder gewollte Entzug von notwendigem Licht und die Verfremdung durch Fensterdurchsichten und Spiegelungen - dies alles verschmilzt zur Farbsprache eines halb realen, halb abstrahierten urbanen Raums. Es sind Arbeiten eines fast noch unentdeckten modernen Meisters der Farbfotografie.
Saul Leiter fotografierte über 60 Jahren in seinem Stadtviertel, dem New Yorker East Village, früher analog, später mit einer kleinen Digitalkamera. Für ihn ist die Vielfalt von alltäglichen Details der Straße der Stoff für seine Bilderfindungen: Ampeln, Verkehrszeichen, Passanten mit Hüten oder Regenschirmen, spiegelnde Schaufenster, Busse, Lastwagen, Autos.
Am 26. November 2013 stirbt Saul Leiter in New York im Alter von 90 Jahren.
Soames Bantry
- Soames Bantry, Penelope ruhend, ca. 1958
Öl auf Leinwand, 40x50 cm
aus: Saul Leiter - Retrospektive
Saul Leiter traf seine Lebenspartnerin Soames Bantry 1958 als Modell bei seinen Modeaufnahmen. Sie freundeten sich an, es wurde Liebe, und sie zog in eine Wohnung im gleichen Haus, in dem er wohnte. Diese Zwei-Appartment-Lösung behielten sie über die 40 Jahre ihrer gemeinsamen Zeit bei. Nach ihrer Modell-Tätigkeit wandte sich Soames wieder der Malerei zu. Saul saß oft bei ihr, mit einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein in der Hand, und schaute ihr beim Malen zu. Er bestärkte sie in ihrer Malerei, allerdings war sie damit nicht sehr erfolgreich. 2002 starb sie. Saul Leiter lebt mit ihren Bildern, die anzusehen er nie müde wird.
„Love is a funny business. There are different things in it, moments of intensity, bits and pieces of estrangement, happy eroticism and on and on. Our lives intertwined. ... We stumbled through life together and the spectacle of this rather odd couple sometimes amused friends and even strangers. I continue to live with her paintings.” (Saul Leiter, Retrospektive)
Der Spätentdeckte
Fast vierzig Jahre nahm eigentlich niemand Notiz von Saul Leiter und seinen Fotografien - eine Situation, die ihm selbst nicht unangenehm war. Seit Beginn der 1990er Jahre wird er als großer Spätentdeckter der amerikanischen Gegenwartsfotografie in Ausstellungen gewürdigt, zunächst natürlich vor allem in den USA. 1991 werden Modefotografien in der Ausstellung „Appearances: Fashion Photography since 1945” im Victoria and Albert Museum, London, gezeigt. Seit 1993 präsentiert die New Yorker Howard Greenberg Gallery Arbeiten von Saul Leiter, zunächst Schwarz-Weiß, seit 1997 auch seine Farbaufnahmen. 2006 folgen Einzelausstellungen in Galerien in Antwerpen, Bangor, Paris, London, Atlanta, Milano, München und Moskau sowie in zahlreichen Gruppenausstellungen. 2008 endlich die erste Museumsausstellung in der Fondation Henri Cartier-Bresson, Paris. 2011 folgt die Einzelausstellung „New York Reflections” im Joods Historisch Museum, Amsterdam, 2012 eine umfangreiche Retrospektive im Haus der Fotografie/Deichtorhallen in Hamburg, die im Frühjahr 2013 im Kunst Haus Wien zu sehen war.
- Installationsansicht SAUL LEITER - RETROSPEKTIVE im Haus der Photographie der Deichtorhallen, 3. Februar – 15. April 2012
Foto © Henning Rogge / Deichtorhallen
- Ãœberblick über das Œvre von Saul Leiter, an einer Ausstellungswand im Kunst Haus Wien zusammengefasst
Foto © Walter Reinthaler/www.bilderreisen.at (cc)
Vielleicht hat sich Saul Leiter gewünscht, erst nach seinem Tod entdeckt zu werden.
„Wahnsinnig nett, irre toll, diese Ausstellung. Verdient hab ich sie nicht. Aber was soll man machen. Jetzt hängen die Bilder da.” (Saul Leiter zu seiner Retrospektive in den Deichtorhallen, Hamburg 2012)
„Ich ging immer davon aus, ich versänke einfach so in Vergessenheit”. ( Saul Leiter)
Aber zum Glück ist er rechtzeitig dem Vergessen entrissen worden.
Am 26. November 2013 ist Saul Leiter in seiner Heimatstadt New York verstorben.
Weitere Informationen
Übersicht über die Ausstellungen von Saul Leiter
LeseTipps: Bücher von und über Saul Leiter
Saul LEITER: Early color. (2008, Monografie)
Eine gelungene Sammlung der für Leitners Bildsprache so typischen ...
>> Rezension
Agnès SIRE/Saul LEITER: Saul Leiter. (2008, Monografie)
Ein interessantes Buch über einen bisher eher unbekannten amerikanischen Fotografen. Leider sind die Bildunterschriften extra aufgeführt und nicht bei den ...
>> Rezension
Ingo TAUBHORN/Brigitte WOISCHNIK: Saul Leiter - Retrospektive. (2012, Monografie)
Die Monografie wird dem so spät entdeckten, faszinierenden und außergewöhnlichen Fotografen Saul Leiter gerecht - auch wenn man sich vielleicht noch mehr Abbildungen wünschen ...
>> Rezension
Alle Porträts:
Cuba: Tamara Bunke, Julio Antonio Mella,
Fotografie: René Burri, Harry Callahan, Henri Cartier-Bresson, Frank Hurley, Anna Kahn, André Kertész, Saul Leiter, Joel Meyerowitz, Anja Niedringhaus, Joel Sternfeld, Weegee,
Hamburg: Albert Ballin, Gabriel Riesser,
Island: Snorri Sturluson, Victor Urbancic,
Kanalinseln: Elizabeth II., Sir Walter Raleigh,
Korsika: Napoleon I. Bonaparte, Joseph Fesch,
Mecklenburg-Vorpommern: Otto Lilienthal, Wilhelm Malte I.,
Norwegen: Johan Halvorsen, Anne Holt, Richard With,
Reisende-Abenteurer: James Cook, Rudolf Carl Slatin Pascha,
Sizilien: Maria Carolina, Friedrich II.,
Toskana: Sandro Botticelli,
USA: John Steinbeck,