Jugend und Studium
- Kaldal, Victor Urbancic, um 1945
Foto © Archiv Sibyl Urbancic (mit freundlicher Genehmigung)
Victor von Urbantschitsch wurde als Sohn einer angesehenen Wiener
Arztfamilie geboren. Die Familie stammte ursprünglich aus Preddvor (Höflein) in Slowenien,
lebte aber schon seit zwei Generationen in Wien. Sein Großvater Victor Urbantschitsch
(1847-1921) gilt als Mitbegründer der modernen Ohrenheilkunde.
Victor lernte Klavier und Orgel und unternahm früh erste kompositorische Versuche. Bereits mit
zweiundzwanzig Jahren promovierte er bei Guido Adler an der Universität Wien im Fach
Musikwissenschaft über die Sonatenform im Werk von Johannes Brahms. Weiter war er Student der
Klavierklasse von Dr. Paul Weingarten, studierte Komposition bei Josef Marx und erwarb 1926
das Dirigentendiplom bei Dirk Fock und Klemens Krauss an der Hochschule für Musik in Wien.
Urbantschitsch war kompositorisch sehr begabt, die Hälfte seiner Kompositionen entstand
bereits bis zu seinem 20. Lebensjahr.
Erste Karriereschritte in Deutschland
- privat, Victor Urbantschitsch und Melitta Grünbaum, um 1930
Foto © Archiv Sibyl Urbancic (mit freundlicher Genehmigung)
1926 wurde Victor Urbantschitsch als SoloÂRepetitor und Operettenkapellmeister an das Stadttheater Mainz berufen. 1932 holte ihn der Opernkomponist Hans Gál als Lehrer für Klavier, Theorie und der Kapellmeisterschule an die Städtische Musikhochschule in Mainz. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten beendete aufgrund der jüdischen Abstammung seiner Frau, der Philosophin, Schauspielerin und Lyrikerin Melitta Grünbaum (1902-1984), seine Karriere in Deutschland, 1933 kehrte die Familie Urbantschitsch mit ihren zwei Kindern nach Wien zurück.
Karriere in Österreich
Nach einem Gastdirigat am Nationaltheater in Belgrad wurde Victor Urbantschitsch schließlich 1934 von Hermann von Schmeidel als Lehrer für Theorie, Klavier und Korrepetition an das Konservatorium Graz geholt, wo er bald zum stellvertretenden Direktor ernannt wurde. Nebenbei war er auch an der Universität Graz als Lektor für Musikwissenschaft tätig.
Machtübernahme der Nationalsozialisten und Flucht nach Island
Jahrelang und nahezu perfekt getarnt hatten mehrere Lehrende das Grazer Konservatorium als
Arbeitsbasis ihrer illegalen nationalsozialistischen Betätigung genutzt. Mit der
Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich kam es im April 1938 zu folgenreichen
personellen Veränderungen. Dem fachlich hoch geschätzten stellvertretenden Direktor des
Konservatoriums, Dr. Victor von Urbantschitsch, wurde mitgeteilt, daß eine weitere
Beschäftigung aus politischen Gründen nicht mehr tragbar sei: seine Frau war Jüdin. Die ihm
nahegelegte Scheidung kam für Victor Urbantschitsch nicht in Frage.
Daher war er nun gezwungen, mit seiner Frau und den Kindern Österreich zu verlassen.
Versuche, Stellen in den USA oder in der Schweiz zu finden, schlugen fehl. Schließlich ergab
sich die Möglichkeit eines Stellentausches mit seinem ehemaligen Studienkollegen
Franz Mixa. Mixa war 1929 nach Island eingeladen worden, um dort die musikalische Leitung
bei den Feierlichkeiten zur Alþingfeier 1930 zu übernehmen und dann in ReykjavÃk geblieben.
1938 kehrte er nach Österreich zurück.
Am 22. August 1938 erreichte Victor Urbancic (in Island benutzte er nach der
Verleihung der Staatsbürgerschaft die slowenische Schreibweise) Island, nicht ahnend, daß er
nicht mehr in seine Heimat zurückkehren würde. Einen Monat später musste seine Frau
(ihre Mutter Ilma Grünbaum wurde 1938 aus Wien deportiert und starb 1943 in Theresienstadt;
die Versuche ihrer Tochter, sie nach Island zu holen, waren an den dänisch/isländischen
Behörden gescheitert) mit den Kindern Peter, Ruth und Sibyl (*1937) Österreich fluchtartig
verlassen und folgte ihm nach ReykjavÃk.
Neue Karriere in Island
- In der Katholischen Kirche von ReykjavÃk war Urbancic Organist und Chorleiter
ReykjavÃk, Juli 2011
Foto © Walter Reinthaler/www.bilderreisen.at (cc)
Zwei Jahrzehnte lang spielte Urbancic eine wichtige und unverzichtÂbare Rolle im
MusikÂleben der Insel. Neben dem Unterricht am MusikkonÂservaÂtorium ReykjavÃk war
er ehrenÂamtlich als Organist und Chorleiter der kleinen katholischen Gemeinde in der
Landakotskirkja tätig. Nach
seinen Plänen wurde dort 1950 die erste mechanische Orgel auf Island erbaut. Zu seinen
Schülern und Studenten zählt eine ganze Generation von isländischen Komponisten, die ab den
späten 1930er Jahren mit dem Studium begann und teilweise bis in die Gegenwart wirkt.
In Island gab es zu dieser Zeit kein Berufsorchester, kein Musiktheater, kaum AktivitäÂten im
Bereich der Chormusik außerhalb der Kirchen, wenig Möglichkeiten zum Üben und nur ein
eingeschränktes Raumangebot für Konzertaufführungen. Außerdem war es während der Kriegsjahre
sehr mühevoll, an gedrucktes Notenmaterial heranzukommen, weshalb die Dirigenten und
Arrangeure oft die Orchesterstimmen von Hand kopieren mußten. Urbancic konnte dank seiner
Ausbildung die fehlenden Stimmen sogar von Grammophonplatten, also der gespielten Musik,
rekonstruieren.
- Victor Urbancic probt mit dem Isländischen Rundfunkorchester im Rundfunksaal in ReykjavÃk (um 1940)
Foto © Archiv Sibyl Urbancic (mit freundlicher Genehmigung)
Urbancic etablierte sich als wichtige und unver­zichtbare Stütze im isländischen MusikÂleben. Er leistete wirkliche Basis- und Aufbauarbeit, bereiste auf damals schlechten Straßen die Insel, besuchte Musiker, Chorleute, Organisten, Musiklehrer und -interessierte draußen auf dem Land und in den kleinen Fjordstädten, und versuchte sie mit Ratschlägen, Kursen und Notenmaterial nach Kräften zu unterstützen. Urbancics Menschenfreundlichkeit, seine Geduld und sein großes pädagogisches Geschick gelten auf der Insel mehr als vierzig Jahre nach seinem Tod als legendär und werden von allen seinen ehemaligen Studenten und Schülern ausnahmslos hervorgehoben.
„Da saß also der gebildete Musiker aus Wien, der das isländische Synphonie­orchester dirigierte und Mozartopern aufführte, und brachte einer gerade Siebenjährigen bei, wie man auf Isländisch Hänschen Klein spielt...” Rudolf Habringer, Island-Passion
Als herausragende Leistung gilt die Erstaufführung der Johannes-Passion (Passio Secundum Johannem, BWV 245) von Johann Sebastian Bach in isländischer Sprache im Jahr 1943. Urbancic hatte die ungewöhnliche und originelle Idee, die Bach-Choräle mit Passionsgedichten des isländischen Dichters HallgrÃmur Pétursson aus dem 17. Jahrhundert zu unterlegen. Er sah in den Gedichten HallgrÃmurs einen der Musik Bachs ebenbürtigen Text. Damit ging er ein doppeltes Risiko ein: zum einen mußte er die Zweifler an seiner Fähigkeit, kompetent mit den Texten des Nationaldichters umzugehen, überzeugen. Zum anderen mußte er Bachs Melodie an den Text HallgrÃmurs anpassen. Doch das Wagnis war erfolgreich, und Victor Urbancic wurde dafür mit dem Ritterkreuz des isländischen Falkenordens ausgezeichnet.
Nach dem Krieg
- Guðmundsson, Familienphoto anlässlich der Hochzeit von Ruth Urbancic, März 1952
vordere Reihe v.l. Victor Urbancic, Tochter Erika (EirÃka), Gattin Melitta; hintere Reihe James Erb (Gatte von Ruth), Tochter Ruth , Tochter Sibyl, Sohn Peter (Pétur)
Foto © Archiv Sibyl Urbancic (mit freundlicher Genehmigung)
Die Bemühungen Österreichs, Victor Urbancic nach Kriegsende zurückzuholen, fanden - wie bei den meisten Exilanten - nicht statt. So entschloß sich die Familie, in Island zu bleiben, und kaufte ein kleines Haus am Stadtrand von ReykjavÃk in Kambsvegur. 1949 erhielten er und die Familienmitglieder (1945 war noch die Tochter EirÃka hinzugekommen) die isländische Staatsbürgerschaft.
Aber es entstanden auch erste Konflikte. Seine Erfolge riefen in der kleinen musikaliÂschen Szene Islands immer öfter Neider auf den Plan. Jón Þórarinsson, der in Yale studiert hatte, kam 1947 nach Island zurück und sollte nach den Vorstellungen der MusikÂgesellÂschaft eine führende Rolle in der musikalischen Gesellschaft Islands spielen. 1952 kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Vorsitzenden der MusikÂgesellschaft, Ragnar Jónsson. 1953 wurde Urbancic als Chor- und Orchesterleiter des Nationaltheaters engagiert. Die daraus entstandenen heftigen Dispute wurden in den Zeitungen als Musikkrieg am Nationaltheater abgehandelt. Urbancic war zwischen die Fronten eines Macht- und Finanzkampfes zwischen der Musikgesellschaft und dem Nationaltheater geraten.
- ReykjavÃk, Nationaltheater, ReykjavÃk, Juli 2011
Foto © Walter Reinthaler/www.bilderreisen.at (cc)
Bis zu seinem Tod war Urbancic als musikalischer Leiter am isländischen Nationaltheater tätig. So auch 1951 bei der ersten OpernÂaufführung in Island, die bis auf die österreichische SopraÂnistin Else Mühl ausschließlich mit islänÂdischen Sängern besetzt war: Rigoletto von Giuseppe Verdi. Er dirigierte dort insgesamt dreißig Stücke, größtenÂteils isländische ErstÂaufführungen.
Früher Tod
Im Sommer 1957 erlitt Urbancic einen leichten Schlaganfall, von dem er sich jedoch bald erholte. Im Winter 1958 reiste er als Fulbright-Stipendiat nach Amerika, wo er den jungen Leonard Bernstein bei der Arbeit beobachtete. Wenige Tage nach seiner Rückkehr erlitt er erneut einen Schlaganfall. Ein Krankentransport, der ihn nach Wien bringen sollte, wurde organisiert, jedoch mußte der Flug verschoben werden. Am nächsten Tag, dem 4. April 1958, starb Victor Urbancic mit nur 54 Jahren in seinem Haus. Er wurde am alten Friedhof von ReykjavÃk, unweit des Tjörnin gelegen, beigesetzt.
„Man muß sagen, daß die Ursache für seinen Tod in der Ãœberanstrengung wegen der Schwierigkeiten in unserem immer noch wenig entwickelten Musikkulturleben liegt. Seine Güte und seine Gewissenhaftigkeit sind bekannt. Er war immer bereit, allen zu helfen und praktisch jede Aufgabe, die ihm überantwortet wurde, anzupacken, selbst wenn sie kaum zu lösen war, und er gab immer sein Bestes.” (Jón Leifs, isländischer Komponist, anläßlich eines Gedenkkonzertes im Nationaltheater, Herbst 1958. zit. nach Habringer 2003)
Melitta Urbancic starb 1984 in ReykjavÃk, Sohn Pétur und Tochter EirÃka leben in ReykjavÃk, Tochter Sibyl in Wien und Tochter Ruth in Virginia.
Was bleibt
Ein Werksverzeichnis der Kompositionen Victor Urbancics von 1946 liegt als Manuskript in
der Isländischen Nationalbibliothek in ReykjavÃk. Es beinhaltet 40 Werke
(Werkgruppen), von denen Urbancic 14 mit Opuszahlen versehen hat. Das Iceland Music
Information Center (IMIC) verzeichnet insgesamt 78 Werke von Victor Urbancic.
Zu seinen Werken zählen Kammermusik, darunter die Fantasiesonate in h-Moll op. 4 von 1924 für
Klarinette und Klavier, die er gemeinsam mit Professor Wunderlich, dem ersten Klarinettisten
an der Wiener Staatsoper, uraufführte, ein Trio für Klavier, Klarinette und Cello (1921)
sowie zahlreiche Lieder (darunter Elisabeth nach Texten von Hermann Hesse), die in ihrem
spätromantischen Duktus den Einfluss von Hugo Wolf und Gustav Mahler erkennen lassen. Daneben
gibt es eine Reihe von Bühnenmusiken, ein fünfsätziges Werk für Klavier und Blechbläser
(1939), ein Concertino für drei Saxophone und Streichorchester (1945), eine Christkönigsmesse
(1946) sowie eine dem Isländischen Symphonieorchester gewidmete Burleske Orchesterouvertüre
in C-Dur (1952). Die Kantate Óður Skálholts, geschrieben 1956 anlässlich eines
Kompositionswettbewerbes zur Feier des 900. Jubiläums der Bischofsweihe des ersten Isländers,
gelangte erst 1996 zur Uraufführung. Urbancic sammelte und bearbeitete auch isländische
Volkslieder.
Von den rund 200 Aufnahmen, die Urbancic für den isländischen Rundfunk produziert hatte,
wurden fast alle in Unkenntnis ihres historischen Wertes überspielt, verschlampt oder
schlicht und einfach weggeworfen.
In Österreich ist Victor Urbancic einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt, sein Name in der
österreichischen Musikgeschichte beinahe vergessen. Seine musikalische AufbauÂleistung in
Graz blieb in der Festschrift der Akademie für Musik und Darstellende Kunst (Graz 1963)
unerwähnt, während seinen damaligen Kollegen und nationalsozialistischen Parteigängern Kränze
geflochten wurden.
In Islands junger Musikgeschichte hingegen nimmt Victor Urbancic einen würdigen Platz
ein.