Herkunft und Jugend
- Snorri Sturluson (1179-1241)
Statue von Gustav Vigeland, 1947
Reykholt, Juli 2011
Foto © Walter Reinthaler/www.bilderreisen.at (cc)
Snorri war der Sohn von Sturla Þórðarson (1116-1183) und Gudny Bödvarsdóttir, die das Geschlecht der Sturlungar begründeten. Aufgrund einer Auseinandersetzung zwischen seinem Vater und dem Pfarrer Páll Sölvason wurde er vom Schlichter in diesem Streit, Jón Loftsson aus Oddi, aufgezogen. Jón war einer der bedeutendsten und mächtigsten Männer Islands, und Oddi ein Zentrum der Gelehrsamkeit. Snorris Mutter war eine uneheliche Tochter des norwegischen Königs Magnus des Barfüßigen. Sie weckte vermutlich Snorris Interesse für die Geschichte der norwegischen Könige. In Oddi lernte Snorri Lesen und Schreiben und bekam Unterricht in Latein, Theologie, Geografie und isländischem Recht.
Mit 20 Jahren heiratete er Herdís, die Tochter des reichen Bersi von Borg im Bezirk Mýrar. Damit gelangte Snorri zu Reichtum und Ansehen und erwarb einen wichtigen Godentitel. Ab 1202 lebte er mit seiner Frau auf Borg. Als er die Anrechte über Reykholt und damit ein weiteres Godenamt erwarb und sich 1206 endgültig dort niederließ, ging die Ehe auseinander.
Snorri, der Politiker
In dieser politisch unruhigen Zeit, auch Sturlungenzeit genannt, tobte in Island ein Machtkampf zwischen den einflußreichen Familien, in den auch Snorri immer wieder verwickelt war. Parallel dazu versuchte der norwegische König Håkon Håkonarson (1204-1263), die Insel unter seine Kontrolle zu bringen.
Snorri war ein guter Mediator und konnte zahlreiche Streitfälle schlichten, was sein Ansehen vermehrte. Zwei Mal, 1215-1218 und 1222-1231, hatte er das Amt des Gesetzessprechers inne, damals das wichtigste Amt im Staat. Auf seiner ersten Reise nach Norwegen in den Jahren 1218-1220 befreundete er sich mit Jarl Skúli Bárðarson, dem Vormund des unmündigen Königs Håkon. Dabei gelang es Snorri, Jarl Skúli von seiner Absicht einer militärischen Intervention auf Island abzubringen. Streitigkeiten zwischen isländischen und norwegischen Kaufleuten waren der Hintergrund. Angeblich versprach er bei dieser Gelegenheit Skúli und dem König, Island unter die norwegische Krone zu bringen. Snorri wurde damit zum Lehnsmann des Königs.
Nach seiner Rückkehr aus Norwegen beeilte sich Snorri keineswegs, diese Zusagen umzusetzen. Seine persönliche Meinung und Position zu einer Herrschaft Norwegens über Island ist wahrscheinlich indifferent und aus seinen Werken nicht direkt ersichtlich. Snorri heiratete die reichste Frau Islands, Hallveig Ormsdóttir, die Witwe von Björn Þorwaldsson von Breiðabólstaður in Fljóshilð. In dieser Zeit widmete er sich den ihm zugeschriebenen literarischen Werken, wurde jedoch immer wieder in familiäre und politische Krisensituationen hineingezogen.
Seine Vielzahl von legitimen und illegitimen Kindern, die sich gegenseitig und mit anderen Familien bekämpften, erforderten immer wieder sein Eingreifen. 1236 wurde er wegen der Übermacht seines Verwandten Sturla Sighvatsson aus Reykholt vertrieben.
Bei seinem zweiten Aufenthalt in Norwegen 1237-1239 unterstützte er Skúli Bárðarson, der selbst nach der Königswürde strebte, in seinem Konflikt mit König Håkon. Möglicherweise hatte Snorri von Skúli die Jarlswürde erhalten und daher gehofft, nach Aufgabe der isländischen Souveränität norwegischer Jarl auf der Insel zu werden. 1239 verließ er wegen drigender Familienangelegenheiten Norwegen entgegen dem Befehls des Königs, aber mit Erlaubnis des Jarls. Skúli legte sich im selben Jahr selbst den Königsnamen zu und revoltierte damit offen gegen Håkon. Nach Skúlis Tod 1240 beauftragte der König seinen Vertrauensmann in Island, Gizur þorwaldsson, den 63jährigen Snorri mit Gewalt nach Norwegen zu bringen oder ihn zu töten. Snorri hatte 1241 seine Frau verloren, verweigerte aber ihren Söhnen das volle Muttererbe. Die Söhne wandten sich daraufhin an Gizur, der die Gunst der Stunde nutzte und Snorri ermorden ließ. Zwei Jahrzehnte nach Snorris Tod kam auch das Ende des isländischen Freistaates: Island wurde norwegisch, Grágás, die isländischen Gesetze, wurden durch Jónsbók ersetzt.Top
Snorri, der Dichter
Der berühmteste isländische Skalde und Sagaheld, Egill Skallagrímsson, zählte ebenso zu seinen mütterlichen Vorfahren wie die Skalden Markús Skeggjason oder Einarr Skúlason. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Snorri schon in seiner Jugend als Dichter in Erscheinung trat. 1202 verfasste er ein Gedicht auf den verstorbenen norwegischen König Sverrir Sigurðarson, das allerdings nicht erhalten geblieben ist. Ebenso gingen etliche spätere Gedichte verloren, nur das Skaldengedicht Háttatal als letzter Teil der Edda blieb erhalten.
Snorra-Edda
- Titelblatt der Druckausgabe der Snorra-Edda von 1666
Durch seine Heirat mit Hallveig Ormsdóttir verfügte Snorri über die notwendigen Mittel, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Er gilt als Autor der um 1220 entstandenen Snorra-Edda (auch Prosa-Edda genannt), einem Skalden-Lehrbuch und Poetik der Skaldendichtung: Am Anfang befindet sich die mittelalterliche Lehrdichtung „Gylfaginning”, in der König Gylfi von Schweden sich als Wanderer verkleidet, um von den Göttern mythische Wahrheiten zu erfahren. Die Kenningar, bei denen es sich um spezifisch nordische Bild- und Metaphernformen handelt, werden in „Skáldskaparmál” (Lehre von der Dichtung) erklärt, und im „Háttatal” (Lehre von den Strophenformen) bringt Snorri Beispiele und Erklärungen der diversen Strophenformen und Versmaße.
Snorri überlieferte eine große Anzahl von Skaldenstrophen, die sonst für immer verloren gegangen wären. Er beschränkte sich dabei nicht auf die (nord-)germanische Mythologie, sondern überlieferte auch Stoffe der Heldensage. Da sich die Handschriften stark von einander unterscheiden, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob alle Teile von Snorri stammen.
Heimskringla
- Seite aus der „Heimskringla”
Mit großer Sicherheit ist er auch der Autor der Heimskringla, einer Geschichte der norwegischen Könige. Sie reicht reicht von der mythischen Urgeschichte, die er im ersten Teil der „Ynglingasaga” schildert, bis in das Jahr 1177. Die Heimskringla besteht aus der
- „Saga über die Ynglinge”,
- „Saga von Hálfdan dem Schwarzen”,
- „Saga von Harald Schönhaar” (868-928),
- „Saga von Håkon dem Guten” (933-961),
- „Saga von Harald Graumantel” (960-975),
- „Saga von Olaf Tryggvason” (995-1000),
- „Saga von Olaf dem Heiligen” (1016-1030),
- „Saga von Magnus dem Guten” (1035-1047),
- Saga von „Harald (dem Harten) Sigurðsohn” (1047-1066),
- „Saga von Olaf dem Stillen” (1066-1093),
- „Saga von Magnus Barfuß” (1093-1103),
- „Saga von den Söhnen Magnus´” (1093-1130),
- „Saga von Magnús Sigurðarson und Harald Gille” (1130-1136),
- „Saga von den Söhnen Haralds (Sigurd, Øystein und Inge)” (1136-1157),
- „Saga von Hákon dem Breitschultrigen” (1157-1162),
- „Saga von Magnus Erlingsson” (1161-1177)
Ihr Wert als historische Quelle im Sinne einer modernen wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ist jedoch umstritten.
Möglicherweise verfasste Snorri auch die „Egils saga Skallagrímssonar”, eine der großen biographischen Isländersagas, die das Leben des Skalden Egill Skallagrímsson erzählt; allerdings ist diese Verfasserschaft umstritten.
Snorris Poetik und Geschichtsschreibung kann auch als kulturelle Gegenreaktion auf die Versuche Håkons gesehen werden, in Norwegen die höfische Kultur Frankreichs zu etablieren. Neben der Übernahme der höfischen Sitten ließ er französische höfische Romane ins Altnordische übersetzen. Snorris Bestrebungen zur Rettung, Wiederbelebung und Fortführung der alten Tradition war allerdings nicht sehr erfolgreich. Sein von ihm als Grundlage und Vorbild geschaffenes Werk ist eher als Höhepunkt und Vollendung der Tradition zu sehen. Maßstäbe setzte er jedoch mit seinen Königssagas, in denen er legendarische Motive zugunsten der historischen Darstellung zurückdrängt.
Was bleibt
Snorris umfangreiches Werk hat einen wesentlichen Beitrag zur Identitätssuche und Identitätsstiftung, nicht nur der Isländer, sondern aller Skandinavier und auch der Deutschen geleistet. In Deutschland wurde der nordische Mythos zuerst 1765 von Gottfried Herder den klassisch griechisch-römischen Mythen einerseits und den orientalischen Mythen eines Goethe im West-Östlichen Divan gegenübergestellt. Der gefühlte Mangel einer deutschen Mythologie sollte durch den Rückgriff auf die nordische Mythologie behoben werden, da die Isländer „auch Deutschen Stammes” seien, wie Herder bemerkte. Die weitere Entwicklung ist ja bekannt: die groteske Überhöhung des Nordischen wurde zum Unterfutter der nationalsozialistischen Ideologie.
Im skandinavischen Raum beriefen sich die Dichter immer wieder auf Snorris Werk und bearbeiteten die dort aufgefundenen Stoffvorlagen. Zu nennen wären hier die Norweger Bjørnstjerne Bjørnson (1832-1910) und Edvard Grieg (1843-1907), die Dänen Adam Oehlenschläger (1779-1850) und Nicolai Frederik Severin Grundtvig (1783-1872). Finnur Jónsson teilte seine Literaturgeschichte in die Darstellung vor und nach Snorri ein. Die „Heimskringla” wurde sowohl für die nationale dänische wie auch die schwedische Geschichtsschreibung reklamiert.
Das heutige Bild von Snorri Sturluson wird im Wesentlichen von seinen zwei Tätigkeiten als Schriftsteller und Politiker bestimmt. Und sein Name findet immer dann Verwendung, wenn es um Dinge geht, die den Stolz auf die skandinavische Vergangenheit und Gegenwart stärken oder ausdrücken sollen. Der Nachbau des Wikingerschiffes, das die historische Fahrt von Leifur Eiríksson nach Neufundland wiederholen sollte, wurde Snorri getauft; ein Erdölfeld der norwegischen Erdölgesellschaft Norsk Hydro in der Nordsee heißt Snorrefeltet. Der Kampf Islands gegen Norwegen um seine Unabhängigkeit ist für immer mit Snorri verbunden, auch wenn er letztlich gescheitert ist.
„Im politischen Schicksal der letztendlichen Erfolgslosigkeit, sogar im Schicksal der Ermordung durch seine Widersacher, verbunden mit gleichzeitigem schriftstellerischem Ruhm, ähnelt Snorri dem Römer Marcus Tullius Cicero.” (Wolfgang Beck, Snorri Sturluson)
LeseTipps: Bücher von und über Snorri Sturluson
Ulrich MÜLLER [Hrsg.]: Mittelalter Mythen. (2005, Literaturgeschichte)
Ein guter Beginn, um diesen bedeutenden isländischen Politiker und Schriftsteller ...
>> Rezension
Rudolf SIMEK [Hrsg.]: Die Edda. (2008, Sagen)
Eine gute Einführung für alle, die sich für die germansiche Mythologie und die Sagawelt ...
>> Rezension
Snorri STURLUSON: Heimskringla - Sagen der nordischen Könige. (2006, Sagen)
Für alle, die sich für die Sagenwelt und die Entwicklung des norwegischen Königstums ...
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Quellen:
- „Reykholt - Die Geschichte” von Geir Waage (Reykholt: Snorrastofa 1997. ISBN: 9979-9302-9-2)
- Wolfgang Beck, Snorri Sturluson
- Snorri Sturluson in Wikipedia
- die „Snorra-Edda” in Wikipedia
- die „Heimskringla” in Wikipedia