(La transparencia del tiempo., 2018)
441 S., ISBN: 978-3-293-00542-6
Zürich: Unionsverlag, 2019
Bewertung
Rezension
El Conde wird 60.
Ein Datum und ein Ereignis, das Mario Conde total aus der Bahn wirft. Denn er beginnt, sein bisheriges Leben zu reflektieren. Er gesteht sich seine prekäre Lage ein. Vor über 20 Jahren hat er den Polizeidienst verlassen und schlägt sich mehr schlecht als recht als Entdecker und Verkäufer alter Bücher durchs Leben. Einige der früheren Freunde haben Cuba verlassen. Und weil es nun legal und mit einem Visum möglich ist, will auch der Hasenzahn zu seiner Tochter nach Miami gehen.
Da bittet Bobby, ein alter Schulfreund, um Hilfe. Bobby kann sich mittlerweile zu seiner Homosexualität bekennen und lebt mit einem jungen Mann zusammen. Der hat ihn aber während einer Abwesenheit bestohlen, alles mitgenommen, was irgendwie verwertbar erschien. Insbesondere aber die Statue der Schwarzen Madonna. Diese hat nicht nur einen emotionalen Wert für Bobby, sondern auch einen hohen Geldwert. Das aber erzählt er Conde nicht, den er beauftragt, die Madonna, genannt "Die Jungfrau von Regla", zu finden.
Der schwule Freund von Bobby ist verschwunden, hat vielleicht Cuba verlassen. Conde findet heraus, daß er einen falschen Namen verwendete und ein Kleinkrimineller war. Er tastet sich auch zu anderen vor, die wahrscheinlich in den Diebstahl verwickelt waren. Aber die Madonna bleibt verschwunden. Selbst aus der Zunft der Kunsthändler, die mit dem Verkauf cubanischer Kunstwerke ins Ausland ein Vermögen verdienen und zu denen auch Bobby gehört, weiß etwas über den Verbleib der Madonna.
Seine Nachforschungen führen Conde an den Abgrund der cubanischen Gesellschaft, in Lebensverhältnisse und Viertel Havannas, die es eigentlich seit der Revolution nicht geben dürfte. Armutsflüchtlinge aus dem Osten Cubas, "Palästinenser" genannt, leben in Slums an der Rändern Havannas - wie in vielen anderen südamerikanischen Städten auch.
Conde, der jeden Tag auf der Suche nach alten Büchern durch Havanna lief, hatte geglaubt, die heruntergekommensten Gegenden der Stadt zu kennen: die alten, immer schon ärmlichen Proletarierviertel wie das, in dem er seit seiner Geburt lebte. Dann hatte er eine nahe gelegene Ansiedlung von Immigranten aus dem Osten Kubas besucht, eine Ansammlung von auf freiem Feld zwischen zwei Wohnvierteln illegal errichteten Hütten. Damals hatte er geduckte, dicht an dicht stehende Häuser mit unverputzten Mauern gesehen, Wand an Wand, ohne Ordnung und Abstimmung errichtet, aber immerhin als Häuser zu bezeichnen. Das, was man nach seinen Maßstäben arm nennen konnte. Jetzt aber sah er den Bodensatz von Havanna, das Schlimmste vom Schlimmen.
Auch in diesem Roman verknüpft Padura zwei Handlungsstränge: Während Conde die Jungfrau sucht, schildert der zweite Handlungsstrang ihre Geschichte und Herkunft in umgekehrter chronologischer Reihenfolge. Er erzählt die Geschichte des Templerordens, mit dem die Statue eng verbunden ist. Aber das ist diesmal nur ein Nebenschauplatz.
Denn Padura geht es um ein anderes Thema. El Conde - und mit ihm sein Schöpfer - schauen fassungs- und verständnislos auf die Entwicklung der cubanischen Gesellschaft. 55 Jahre nach der Revolution, die Gleichheit und Gerechtigkeit für alle versprochen hatte, steht Conde vor den Trümmern nicht nur seiner Erwartungen, Hoffnungen und Träume. Ein tiefer Spalt durchzieht wieder die Gesellschaft: diejenigen, die gar nichts haben gegen diejenigen, die sich irgendwie durchs Leben schlagen und diejenigen, die wieder alles besitzen. Zerfallende, parzellierte Häuser gegen die renovierten Villen, Luxusrestaurants gegen Kaschemen. Korruption, Prostitution, Gewalt, Elend, wohin man auch blickt. Das hat sich Fidel Castro - der niemals erwähnt wird - wohl so nicht vorgestellt.
Fazit: Das ist wohl der desillusionierendste Roman von Leonardo PADURA über Cuba und seine Entwicklung. Seine Position als gefeierter Schriftsteller ermöglicht ihm, Kritik an der Entwicklung der Revolution, die etwas jünger ist als er, zu üben. Und diesmal kommt er den roten Linien, die es wahrscheinlich auch für ihn gibt, sehr nahe.
In vielerlei Hinsicht sahen sich die Freunde als Musterexemplare ihrer Generation. Sie hatten sich nicht, wie so viele andere, fürs Exil entschieden. Eisern klammerten sie sich an ihrem eigenen Boden fest. Die Jahrgänge, die geglaubt und gekämpft hatten, waren so gut wie gar nicht für die Opfer entschädigt worden, zu denen man sie aufgerufen und gelegentlich auch gezwungen hatte. Wer nicht den Wunsch, die Kraft oder die Möglichkeit hatte, fortzugehen, sah ringsum viele der tragenden Säulen eine nach der anderen einstürzen. Und jetzt lebten sie so dahin, so gut es eben ging, jammerten ein wenig oder auch nicht, je nach der wechselnden Stimmung des Tages. Aber immer waren die Taschen leer. Und der Horizont wurde immer enger. Ihre Zukunft war absehbar. Sie konnten sich nicht mehr neu erfinden. Zwischen Opportunisten, cleveren Unternehmern, Abzockern und Siegertypen der neuen Schule, einige davon mit Diplomen der alten Schule, würden sie aufgerieben. Eine Welt gefräßiger Menschen, die alles verschlingen wollten, was diese narkotisierte Gesellschaft geschaffen oder übrig gelassen hatte. In der nur Kontrolle und Schönfärberei immer neu aufblühten, unter laufend angepassten Parolen und Drohungen. In friedlicher Koexistenz mit Opportunismus und Korruption, mit wild wuchernder Aggressivität, Gleichgültigkeit, Unhöflichkeit und der Hoffnungslosigkeit so vieler Menschen. Wunderbare Aussichten!